Der letzte Weynfeldt (German Edition)
drängten sich an ihm vorbei. Das Geklapper aus der Küche, das Gerassel vom Büfett und die italienischen Zurufe der Bestellungen und Lieferungen machten es ihm schwer, die Stimme am anderen Ende zu verstehen. Es war nicht Véronique. Es war eine leise Frauenstimme, die ihm bekannt vorkam. »Ach, Liebling«, sagte sie etwas blasiert, »kannst du nicht so schnell wie möglich ins Spotlight kommen und ein peinliches Missverständnis aufklären? Das wäre total lieb, die halten mich hier nämlich für eine – Ladendiebin.« Bei »Ladendiebin« lachte sie auf, und an diesem Lachen erkannte er sie: Lorena!
»Ladendiebin?«, lachte jetzt auch er. »Das Spotlight? Die Boutique? Ich bin in zehn Minuten da.« Er legte mit klopfendem Herzen auf, bat Agustoni, ihm die Rechnung unsigniert zu schicken, und ging zum Tisch zurück.
Da saßen sie, seine jüngeren Freunde, ganz in ihr Gespräch vertieft. Alle nahe dem Vierzigsten und alle in schlecht verhohlener Panik vor diesem verhängnisvollen Geburtstag, an dem auch die zweite Verlängerung ihrer Jugend abgepfiffen würde.
»Ein dringender Anruf«, erklärte er. »Ich muss leider sofort…«
Niemand hörte ihn, niemand blickte auf.
»Dann bis nächsten Donnerstag«, murmelte er noch, ging durch das von Stimmen, Rauch und Essensgerüchen erfüllte Lokal und hinaus auf die belebte Straße.
Es war unnatürlich warm für die Jahreszeit. Angestellte aus den Büros der Innenstadt nutzten die Mittagspause zu einem hemdsärmeligen Spaziergang. Vielen von ihnen sah man an, dass sie sich an diesem geschenkten Frühling nicht unbeschwert freuen konnten. Der Klimawandel war in diesen Tagen für die Medien endgültig vom Spleen einiger alternativer Panikmacher zum ernsthaften globalen Thema avanciert.
Weynfeldt ging mit weitausholenden Schritten auf dem Trottoir, immer wieder auf die Straße ausweichend, wenn er eine in gleicher Richtung schlendernde Gruppe überholen oder einer entgegenkommenden ausweichen musste. Das Spotlight war nicht weit von hier, aber wenn er es tatsächlich in zehn Minuten schaffen wollte, musste er sich trotzdem sputen, drei davon waren bereits vergangen.
Liebling hatte sie ihn genannt. Wochenlang kein Lebenszeichen und dann Liebling. Und was war das für eine Geschichte mit der Ladendiebin? Hatte sie das Portemonnaie vergessen? Das Kreditkartenlimit überzogen? Ein peinliches Missverständnis? Was für eines? Bald würde er es wissen.
Er wollte die Straße in spitzem Winkel überqueren und wurde vom wütenden Gebimmel eines Trams wieder auf den Gehsteig zurückgejagt. Er machte eine entschuldigende Geste zum Tramführer hinauf und ging neben der wieder anfahrenden Nummer Vierzehn eilig weiter, bis sie ihn überholt hatte und er – diesmal vorsichtiger – über die Straße konnte.
Das Spotlight lag in einer eleganten Einkaufsstraße. Er war schon oft daran vorbeigegangen, hatte es aber noch nie betreten. Weynfeldt kaufte keine Designerkleider, sein Designer war Diaco, der Herrenschneider in dritter Generation, dessen Vater schon seinem Vater die Anzüge anmaß.
Als die Boutique in Sichtweite kam, verlangsamte er den Schritt. Er wollte nicht außer Atem ankommen. Der erhabene Schriftzug an der Fassade warf lange, gemalte Schlagschatten. Weynfeldt erinnerte sich, dass er nachts von nahe an der Hauswand angebrachten Halogenspots angeleuchtet wurde und echte Schatten warf. Das Geschäft besaß vier große Schaufenster, in denen weiße, fast gesichtslose Kunststoffmannequins ihre Kleider vorführten.
Weynfeldt betrat das Geschäft und schaute sich um. In der Nähe der Kasse stand Lorena mit einer eleganten Frau mit Pagenschnitt und einem Kahlgeschorenen in schlechtsitzendem Anzug. Er ging auf das Grüppchen zu.
»Danke, dass du so schnell gekommen bist«, sagte Lorena und küsste ihn auf den Mund.
8
So war an diesem langweiligen Mittag doch noch etwas Action aufgekommen. Die Gabel hatte die Rothaarige knallhart aufgefordert, ihr den Inhalt ihrer Handtasche zu zeigen, und die hatte sich eisern geweigert. Pedroni hatte zwar nicht verstanden, was gesprochen wurde, aber man brauchte kein Lippenleser zu sein, um zu kapieren, was vorging. Er stand auf der obersten Stufe der Wendeltreppe und beobachtete, wie es weiterging. Wenn er hätte wetten müssen, hätte er auf die Chefin gesetzt. Die Kundin mochte noch so unverfroren sein, die Gabel hatte schon alles gesehen, was es auf dem Gebiet des Ladendiebstahls zu sehen gab. Sie würde sie nicht ungeschoren
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