Der letzte Weynfeldt (German Edition)
geht es eigentlich nie richtig runter.« Und nach ein paar Sekunden ergänzte er: »Aber auch nie richtig rauf.«
Der Weg führte aus der Grünanlage hinaus und mündete in ein schmales Trottoir am linken Straßenrand. Weynfeldt wechselte die Tragetaschen von der linken in die rechte Hand und begab sich an Lorenas rechte Seite.
»Weshalb wechselst du ständig die Seite?«, wollte Lorena wissen.
»Normalerweise gehe ich links von der Dame. Aber auf schmalen Trottoirs auf der Seite, wo der Verkehr fährt. Das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich verfalle in den Passschritt, wenn ich auf der falschen Seite gehe.«
Lorena lachte auf. »Du schützt die Dame mit deinem Körper vor dem Straßenverkehr?«
»Komisch, nicht?«
»Irgendwie auch süß.« Sie hakte sich bei ihm unter. Ein Betonmischer kam ihnen entgegen. Lorena zog Adrian vom Trottoirrand weg. »Komm. Den schaffst du nicht.«
Sie gingen jetzt in der prallen Sonne. Adrian hatte den oberen der beiden Knöpfe seines Jacketts die ganze Zeit zugeknöpft gehabt. Jetzt öffnete er ihn. Sie bemerkte, dass er auf der rechten Hemdenbrust ein Monogramm trug. A.S.W. Wie auf seinem Pyjama.
»Wofür steht das S?«, fragte sie.
»Sebastian. So hieß mein Vater.«
»Wie der Diener in Heidi .«
Weynfeldt lachte. »Stimmt. Das ist mir noch nie aufgefallen.«
Sie gingen schweigend weiter. Nach einer Weile sagte er: »Darf ich dich etwas fragen?«
»Alles, was du willst.«
»Warum hast du gerade mich angerufen?«
Lorena überlegte lange. Dann antwortete sie: »Weil du seit jenem Sonntag für mein Leben verantwortlich bist.«
10
Sperlingstraße zweiundvierzig war die rosarote Hälfte eines kleinen Doppeleinfamilienhauses, dessen andere Hälfte safrangelb gestrichen war. Die Nachbarn hatten sich offenbar nicht einigen können.
Weynfeldt klingelte und wusste, dass er die Person, die öffnete, nicht mögen würde. Sie war schuld, dass er sich um zwanzig vor drei von Lorena hatte verabschieden müssen. Sie mit einem seiner Gutscheine in ein Taxi setzen und ihr nachwinken und hoffen müssen, dass sie am nächsten Abend tatsächlich wie versprochen im Châteaubriand auftauchen würde, dem kleinen überteuerten Gourmetlokal, in dem er vor seinen jungen Freunden ganz und vor seinen alten ziemlich sicher war.
Ein Hund hatte mit sich überschlagender Stimme zu bellen begonnen. Eine Frau befahl ihm vergeblich, ruhig zu sein.
Die Tür wurde einen kleinen Spalt weit geöffnet. Auf Wadenhöhe schoss eine kleine Hundeschnauze mit gebleckten Zähnen heraus. »Einen kleinen Moment nur, bis ich Susi eingesperrt habe«, sagte die Frauenstimme. Die Tür schloss sich wieder. Weynfeldt wartete.
Der kleine abschüssige Garten roch nach Frühling. In der Rabatte vor dem Haus blühten Schneeglöckchen, Krokusse und rosarote Zyklamen. Unter einer Birke stand ein zusammengeklappter rostiger Gartentisch, an dem vier Stühle vornübergekippt lehnten. Man sah ihnen an, dass dies nicht ihr erster Winter im Freien war.
Es war Frau Schär selbst, die die Tür öffnete. Eine mollige Dame – seit ihrem letzten Coiffeurbesuch war wohl noch keine Nacht vergangen. Sie war Mitte sechzig und schwarz gekleidet, vor ein paar Tagen war sie Witwe geworden.
Aus Rücksicht darauf hatte Véronique eingewilligt, dass nicht Frau Schär ins Büro, sondern Herr Dr. Weynfeldt zu ihr nach Hause kam.
Die Frau besaß ein paar Berglandschaften von Lugardon, die sie schätzen lassen wollte. Nicht ausgeschlossen, dass sie sich von ihnen trennen würde, so schwer es ihr auch falle.
Weynfeldt schüttelte eine kleine weiche Hand und drückte Frau Schär sein Beileid aus. Sie roch nach einem viel zu jugendlichen Parfum mit einer zu dominanten Maiglöckchennote.
Im Haus hing der Geruch des Mittagessens, etwas sehr heiß Angebratenes musste es gegeben haben. Weynfeldt wurde an einer Tür vorbei, hinter der Susi wie rasend bellte, in ein Wohnzimmer geführt. Durch ein großes Blumenfenster sah man in einen Hintergarten von noch einmal der gleichen Größe wie der Vorgarten. Ein Gartenhäuschen im Stil eines Chalets stand darin.
Frau Schär bot ihm Kaffee an, Weynfeldt lehnte ab. Er habe nicht viel Zeit und schlage vor, dass man gleich zur Sache komme.
Vier der Bilder hingen über dem Sofa, zwei standen angelehnt auf dessen Sitzpolster. Eines davon war unverkennbar ein Lugardon. Es zeigte eine Bergkette im ewigen Schnee und in deren Vordergrund eine akribisch gemalte Alpwiese, auf der etwas Braunvieh
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