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Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Höhe.
    »Es ist das bedienungsfreundlichste, hat der Verkäufer gesagt«, verteidigte sich Adrian.
    »Weißt du, was das ist? Ein Seniorenhandy. So ungeschickt hast du dich angestellt, dass man dir ein Seniorenhandy verkauft hat? Wie willst du das denn rumschleppen? In einem Herrenhandtäschchen?«
    »Ich werde mir von Diaco in alle Anzüge eine Handytasche ins Futter nähen lassen.«
    Den Rest des Nachmittags verbrachten sie mit einem Intensivkurs zur Bedienung seines Seniorenhandys.
    Am Abend arbeitete er im Büro das an diesem Tag Angefallene auf. Er rief auch Baier an und teilte ihm seine Entscheidung mit.
    Gleich am Montag würde er mit dem Reprofotografen einen Termin ausmachen. Der Redaktionsschluss für den Katalog war zwar vorbei, aber es war noch nicht zu spät für »La Salamandre« als Titelbild.
    Noch nie hatte sich Weynfeldt in einem Stresemann bei einer Trauerfeier fehl am Platz gefühlt. Es war der korrekte Anzug – schwarzgrau gestreifte Hose, schwarzes Jackett, schwarze Weste, weißes Hemd und schwarze Krawatte – für jeden feierlichen Anlass am Vormittag.
    Aber bei der Beerdigung von Dr. Widler schien er der Einzige zu sein, der sich an diese Tradition hielt.
    Es war keine angemessene Trauergemeinde für einen Mann, der so viel Wert auf Kleidung gelegt hatte.
    In der Kirche saß Weynfeldt zwischen Karl Stauber und Paul Schnell, die er zuletzt beim White Turf in St. Moritz getroffen hatte. Genau vor ihm war Mereth Widler, flankiert von zwei Töchtern, auch sie schon um die sechzig.
    Die Witwe trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kostüm, das sie wohl rechtzeitig eigens für diesen Anlass hatte machen lassen. Sie war, als die Trauergemeinde bereits Platz genommen hatte, von ihren Töchtern hereingeführt worden, wie eine Braut von den Brautjungfern. Adrian konnte ihr Gesicht sehen, bevor sie sich in die vorderste Bank setzte. Es trug ein perfektes maskenhaftes Make-up, bleich, ohne Rouge, mit schweren Lidschatten und einem weinroten, dramatischen Lippenstift.
    Er blickte während des ganzen Trauergottesdienstes auf das sorgfältig toupierte, ewigblonde Haar der alten Frau hinunter. Wahrscheinlich hatte sie sich vor der Beerdigung auf Drängen der Familie für ein paar Minuten hingelegt. Jedenfalls klaffte auf ihrem Hinterkopf eine Lücke in der Frisur, die den Blick auf ein Stück bleiche Kopfhaut freigab. Wenn er während der Zeremonie mit den Tränen zu kämpfen hatte, dann wegen dieses einzigen, rührenden, vielleicht nur für ihn erkennbaren Makels in ihrer tapferen Erscheinung.
    Während der Grablassung stand sie, flankiert von ihren größeren und korpulenteren Töchtern, zart und zerbrechlich, aber aufrecht wie eine Figur der chinesischen Terrakotta-Armee am Rande des Grabes. Adrian erinnerte sich an die Beisetzung seines Vaters. Er hatte, am Arm seine Mutter, am offenen Grab gestanden, und als sie ihre Rose und ihre Schaufel Erde hinunterwarf, hatte sie leise und mit einem Lächeln, das er noch nie an ihr gesehen hatte, gesagt: »Süßholzstengel.«
    Er war der Einzige, der es gehört hatte, und er erwähnte es während der restlichen zwanzig Jahre ihres Lebens mit keinem Wort. Aber seit jenem Tag konnte er nicht mehr an seinen Vater denken, ohne dass er das Bild des Süßholzstengels verjagen musste.
    Der Pfarrer bat die Anwesenden, das Vaterunser zu beten. Mitten in das Gemurmel drang die aufgeregte und läppische Melodie eines Handys. Ein paar griffen in ihre Jacketts und Handtaschen, aber die Melodie spielte weiter. Ein paar Köpfe drehten sich zu Weynfeldt, der indigniert mit gefalteten Händen und gesenktem Blick auf das Ende der Störung wartete.
    Erst jetzt wurde ihm das Ausmaß der Katastrophe bewusst. Er lief feuerrot an, fasste in seine Tasche, nahm das Gerät heraus, sah es hilflos an und drückte auf den Tasten herum, bis jemand es ihm aus der Hand nahm, zum Schweigen brachte und zurückgab.
    Mereth hatte sich während des ganzen Zwischenfalls nicht umgewandt.
    Nachdem alle ihr Schäufelchen Erde auf den Sarg hatten plumpsen lassen, führte die Witwe die Trauergemeinde gemessenen Schritts zum Friedhofsausgang. Im knirschenden Kies wanderten vielleicht achtzig Trauergäste in der strahlenden Frühlingssonne durch den Friedhof, auf dem es überall grünte und spross, und gaben sich Mühe, eine ernste und gefasste Miene zu wahren.
    Beim Ausgang nahm Mereth Widler die Beileidsbekundungen entgegen. Ihre Töchter raunten den Kondolierenden den Namen des Restaurants zu, in dem man

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