Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
wandte sich ab, um einem der Kinder zu sagen, dass es still sein sollte.
»Elaine, die Zeitungen wissen, dass Callum draußen ist.«
Elaine seufzte erneut, diesmal schwerer und auf eine Weise, die vermuten ließ, dass sie das bereits wusste. Sie übergab Sean den Hörer.
»Dann wisst ihr es wohl schon?«
»Die Meute steht vor der Tür. Sie haben die Kinder fotografiert, die Fenster, die Straße, einfach alles.«
»Kann er eine Weile im Haus bleiben? Ich kaufe für euch ein, wenn ihr was braucht.«
»Er ist nicht hier, Paddy, er ist abgehauen.«
»Wohin abgehauen?«
»Keine Ahnung. Als Erstes kam der Wagen von Scottish TV hier vorgefahren, er hat ihn gesehen, ist zur Hintertür raus, und seitdem haben wir ihn nicht mehr gesehen. Das war vor einer halben Stunde. Kannst du ein bisschen herumfahren und nach ihm Ausschau halten? Er kann nicht weit sein.«
Das war das Letzte, wozu sie Lust hatte. Mein Auto steht auf dem Parkplatz vor der Redaktion, Bunty sucht mich, die Polizei hat mich abgeholt und … verdammte Scheiße, Hatcher ist tot. Aber Sean Ogilvy war wie ein Vater für Pete gewesen, als er noch sehr klein war. Er und Elaine hatten auf ihn aufgepasst, damit Paddy arbeiten konnte, hatten ihn getröstet, als er die ersten Zähne bekam, und sie schlafen lassen. Nur wenn sie selbst tot gewesen wäre, hätte das als Ausrede gelten können. Sean sagte nichts, aber sie hörte es trotzdem.
»Okay. Okay, okay.«
Als sie die Wagentür öffnete, hatte Merki das Radio eingeschaltet und sang gut gelaunt Daydream Believer mit.
»Bring mich verdammt noch mal nach Glasgow zurück, Merki.«
24
Ballon an der Strippe
Die hellen, nach Putzmittel riechenden Gänge wurden von Bildern und Collagen der verschiedenen Jahrgangsstufen gesäumt. Es waren Belege dafür, dass gearbeitet und die Zeit sinnvoll verbracht worden war.
Hohe Singstimmen drangen vom Ende des Flurs herüber, doch die Kinder hinter der Tür, in Petes Klassenzimmer, waren sehr still. Paddy und die stellvertretende Schulleiterin blickten gemeinsam durch das Fenster in der Tür. Vier Reihen kleiner Pulte waren auf Miss MacDonald ausgerichtet und sie las eine Geschichte vor. Pete saß in der allerersten Reihe, und Paddy beobachtete ihn einen Augenblick lang. Er drehte sich immer wieder zu seiner Nachbarin um, einem kleinen Mädchen mit rosa Brille, ein Glas war abgeklebt. Dann sah er wieder zur Lehrerin, weil ihm einfiel, dass er nicht reden durfte.
»Vielleicht sollten wir ihn da rausholen, bevor er Ärger bekommt«, sagte Miss McGlaughlin lächelnd, die stellvertretende Direktorin, eine stattliche Frau mit Schmetterlingsspange im grauen Haar.
Sie klopfte einmal an und öffnete die Tür. Als die Kinder sahen, dass sie es war, standen sie auf.
»Danke, Kinder«, sagte Miss McGlaughlin. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen, Miss McGlaughlin«, sangen die Kinder im Chor. Dann sprach die stellvertretende Schulleiterin leise mit Miss MacDonald und tischte ihr Paddys Lügengeschichte auf, Petes Oma sei schrecklich krank, und er müsse jetzt sofort mit seiner Mutter zu ihr fahren. Miss MacDonald blickte skeptisch und flüsterte: »Handelt es sich um Ihre Mutter oder die von Mr. Burns?«
Paddy hätte ihr am liebsten eine runtergehauen. »Meine Mutter.«
»Verstehe.« Miss McGlaughlin warf Miss MacDonald einen tadelnden Blick zu, weil sie eine Mutter trotz eines eventuell bevorstehenden Trauerfalls in der Familie ausfragte, woraufhin sich Letztere verteidigte: »Ich wundere mich nur, weil Miss Meehan meinte, Petes Vater wolle ihn heute vielleicht abholen.« Sie sah wieder zu Paddy und konnte sich gerade noch verkneifen, sie als Lügnerin zu beschimpfen. »Was soll ich ihm sagen, wenn er kommt?«
Auch Miss McGlaughlin sah sie jetzt in Erwartung einer Antwort an.
Paddy signalisierte Pete, dass er zu ihr kommen solle. Er stand auf und ging verlegen zu ihr, blickte von einer Erwachsenen zur nächsten, als hätte er etwas ausgefressen. »Petes Daddy bringt ihn morgen zur Schule, wenn’s recht ist. Wo ist deine Jacke, Schatz?«
»Fahren wir zu Dad?«
»Wo ist deine Jacke?«
Er spürte, dass sie sich den Lehrerinnen widersetzte, und seine Augen funkelten vor Freude. »Hängt am Haken.«
»Komm.« Sie nahm seine Hand, erinnerte sich an ihre Manieren und wandte sich noch einmal an die Lehrerin. »Danke, Miss MacDonald.«
Bevor die Lehrerinnen sie zurückhalten konnten, stand sie schon im Gang, Pete kicherte an ihrer Seite.
Über den Gang in den offenen Klassenraum
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