Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
ist noch keine sechs Jahre alt.« Paddy wischte ihm die Haare aus dem Gesicht und küsste ihn. »Er ist zwar schon ein großer Junge, aber selbst große Jungs sind für ihre Mamis Babys.« Sie fasste ihn am Kinn und lächelte ihn so liebevoll an, wie sie konnte. »Du kannst ja eine andere Jacke anziehen, stimmt’s Schatz? Und einen schönen Abend mit deinem Daddy verbringen. Morgen fährt er dich in die Schule, und ich hol dich später dort ab.«
Pete sah bekümmert über ihre Schulter in sein Zimmer, während Burns »Verdammte Scheiße« vor sich hin nuschelte.
Paddy stand am Fenster, die Nase an der kalten Scheibe, und sah hinunter auf den großen schwarzen Mercedes. Der tadellos polierte Kofferraum reflektierte das gelbe Sonnenlicht, als Burns die Reisetasche hineinhob und ihn schloss. Sandra setzte sich auf den Beifahrersitz und Burns öffnete die Hintertür für Pete, sah zu, wie er auf allen vieren hineinkletterte. Er knallte die Tür mit großer, ausholender Geste zu, machte einen Schritt zur Fahrertür hin und hielt inne. Über das Wagendach hinweg überzeugte er sich davon, dass sich seine Frau außer Sichtweite befand, und sah zu Paddy am Fenster hoch.
Er warf ihr ein Flirtlächeln zu. Sie reagierte nicht. Er lächelte noch einmal und machte mit Daumen und kleinem Finger am Ohr eine Geste, die bedeuten sollte, dass sie telefonieren würden. Paddy achtete auf die Einhaltung einer kurzen theatralischen Pause und machte dann eine langsame und angestrengte Wichsbewegung.
Burns stand auf dem Gehweg und kriegte sich kaum mehr ein vor Lachen.
7
Das Babbity Bowster
I
Hätte nicht die Sonne geschienen, hätte die enge Straße ausgesehen wie ein Film-Set für Jack the Ripper: Kopfsteinpflaster, ein hoch aufragendes Lagerhaus aus Backstein mit kleinen vergitterten Fenstern an der Seite, ein riesiger schwarzer Holzschuppen und inmitten der Industriegiganten ein hübsches georgianisches Kaufmannshaus mit einem handgemalten Holzschild: »Babbity Bowster«.
Ein Babbity Bowster war, wie sich Paddy hatte sagen lassen, der letzte Tanz, der bei einem Ceilidh, einem traditionellen irischen Tanzabend, gespielt wurde. Es war ein Paartanz, vor allem für frisch Verliebte, die danach, am Ende des Abends Anspruch aufeinander erheben konnten. Der Name des Pubs hätte nicht passender sein können, wenn man bedachte, wie stark es von Mitarbeitern der Presse frequentiert wurde.
Das Babbity’s war der bevorzugte Treffpunkt der bekanntesten und wichtigsten Personen der schottischen Presselandschaft. Es war nicht weit vom Redaktionsgebäude der Daily News und der Press Bar entfernt und bot zahlreichen Zeitungsmachern der Stadt eine Heimat. Das Babbity’s war teuer, was die kleinen Fische aus der Branche abschreckte. Auch die anderen Gestalten, die sonst gerne in Journalistenbars herumhingen, ließen sich von den Preisen fernhalten: Kleinkriminelle und Klatschmäuler mussten sich andere Stammkneipen suchen. Die Gäste hier waren allesamt hochkarätige Beamte, Politiker und Geschäftsleute, die sich vom schäbigen Glamour der Pressemenschen anlocken ließen. Oben im Restaurant wurden Absprachen getroffen und hoch bezahlte Kolumnen vergeben, Talente abgeworben und so manche Streiterei über den kläglichen Überresten einer Käseplatte beigelegt.
Das Kaufmannshaus, von Robert Adams entworfen, verfügte über drei perfekt geschnittene Stockwerke mit einem hübschen Giebel und dorische Säulen, die den Eingang einrahmten. Zweihundert Jahre war das Gebäude im Stadtzentrum versauert, hatte als Lagerhaus oder Fischladen gedient und zum Schluss sogar zwanzig Jahre lang leergestanden, bis ein geschäftstüchtiger französischer Hotelier es renovieren ließ. Die Innenausstattung war unaufdringlich schottisch, keine Karomuster oder Hirschköpfe mit glasigen Augen, sondern weiß getünchter Gipsputz, Schieferböden und schwarz gerahmte Fotos von Kleinbauern und Fischern. Die Bar bot eine riesige Auswahl an Malt Whisky und auch auf die schottischen Biere war man sehr stolz. Auf der Speisekarte des Restaurants fanden sich Hering in Hafermehl, traditioneller Räucherschinken, Rindersteaks und die Sorte Meeresfrüchte, die Schottland normalerweise direkt nach Frankreich oder Spanien exportierte. Ein schottischer Hotelier hätte ein französisches Restaurant daraus gemacht.
Einige frühe Trinker waren da, arbeiteten sich stoisch durch den späten Sonntagnachmittag, allein oder zu zweit, leisteten sich Gesellschaft, um nicht einsam zu
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