Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
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8
Fort William
I
Kevin Hatcher bewegte sich steif und langsam wie ein alter Mann. Dabei war er gar nicht alt. Er sah sogar jünger aus, als ihn Paddy in Erinnerung hatte, vor sechs Jahren, als sie ihn das letzte Mal aus der Nähe gesehen hatte. Damals hatte er allerdings auch noch getrunken. Jetzt war er braungebrannt und seine Haare waren blonder und heller als noch zu der Zeit, in der er von Bar zu Bar getorkelt war und gar nichts anderes mehr getan hatte. Durch den dünnen Stoff seines abgetragenen Jeanshemds konnte sie sehen, dass er Sport trieb und breite Schultern und kräftige Arme bekommen hatte.
Als sie ihn anrief, hatte er nicht gefragt, weshalb sie vorbeikommen wollte, dabei war es bereits Sonntagabend acht Uhr gewesen. Er hatte ihr die Tür geöffnet, »Hallo« genuschelt, ihr den Mantel abgenommen, ihn beiläufig über einen Stuhl im Flur gelegt und sie ins Wohnzimmer geführt. Er stand noch unter Schock, das war nicht zu übersehen.
Die Wohnung befand sich im obersten Stockwerk eines Wohnhauses aus rotem Sandstein. Sie war hübsch, aber unglaublich unordentlich und höhlenartig, unübersehbar die Wohnung eines Junggesellen. Sie gingen an der Küchentür vorbei und eine Schwade Putzmittelgeruch stieg ihr in die Nase. Sie vermutete, dass irgendwann einmal eine Frau hier gewohnt hatte: Gerahmte Bilder waren mit Bedacht aufgehängt und unter der unordentlichen Oberfläche verbarg sich eine gewisse Struktur. Zwei Sofas standen einander im Wohnzimmer gegenüber und irgendwo darunter befand sich auch ein Teppich, aber die Wohnung erstickte in Staub und Durcheinander, schmutzigen Bechern, Fotografien, seltsamen Mitbringseln aus den Souvenirshops der Autobahnraststätten. Im Flur waren Stative in verschiedenen Größen aufgebaut. Ein einzelner Stuhl stand mitten im Wohnzimmer, direkt vor dem Fernseher.
Als er ihr in den Raum hinein folgte, erzählte er, er sei mittags Milch kaufen gegangen und habe mehrfach die Schlagzeile in der Daily News gesehen, bevor er endlich Terry auf dem Foto erkannte.
»Das war ein altes Bild«, sagte er und schob einen Haufen Zeitschriften auf einer Seite des Sofas zusammen, sodass sich Paddy setzen konnte.
»Ja«, sagte sie, »aus der Zeit, bevor er wegging.«
Er stand vor Paddy, sah auf den Boden, öffnete und schloss die Hand, als müsse er sich anstrengen, sich zu erinnern, wie man bei solchen Besuchen weiter verfuhr. Endlich erinnerte er sich. »Tee?«
»Nein, danke. Geht’s dir gut?«
Kevin schüttelte den Kopf.
»Setz dich.« Sie klopfte auf die Sitzfläche des Sofas neben sich. »Was hast du den ganzen Tag gemacht?«
Er trottete zum Sofa, wedelte hilflos mit den Händen über der Jacke und dem Becher, als wollte er beides wegzaubern. Dann griff er doch danach, verfrachtete beides auf den Boden, setzte sich und schlang seine Arme um die Taille. Er hatte die Polizei gerufen und ein paar Stunden mit den Beamten verbracht, hatte immer wieder die Ereignisse des Abends im Casino heruntergebetet.
Kevins Arbeit lag überall verstreut herum. Auf dem Wohnzimmertisch standen mehrere geöffnete Kisten mit Dianegativen und große schwarze Mappen lehnten an der Wand oder lagen geöffnet auf dem Boden. Die Fotografien waren wunderbar frisch wirkende Porträts von der Straße, jedes davon erzählte unzählige Geschichten: ein Fischer mit Blut am Overall, der eine Zigarette rauchte, drei fröhliche Männer mit Lederschürzen vor einem modernen Schlachthofgebäude, ein dicker Mann in Sportkleidung an einem tristen Skihang, in seiner Spiegelbrille waren Touristenhorden zu sehen, die einen steilen Pfad heraufwanderten. Sie wollte Kevin Komplimente dafür machen, befürchtete aber, es würde albern klingen.
Kevin nickte rhythmisch mit Blick auf seine Füße und sah plötzlich zu ihr auf. »Er hat dich wirklich geliebt.«
Sie schauderte.
»Ich meine nicht, dass du ihn auch hättest lieben müssen, nur – weißt du, er hat dich eben geliebt.«
»Kevin, Terry hatte seit Jahren keine Zeit mehr mit mir verbracht. Ich weiß nicht, wen er geliebt hat, aber mich hat er nicht mehr gekannt.«
»Verändern sich die Menschen?«, fragte er, als wäre ihm dieser Umstand völlig neu. »Größere Häuser, Kinder und Geld, das ist doch nur Beiwerk, oder nicht?«
Die Formulierung gefiel ihr. »Für einen Knipser bist du ganz schön wortgewandt.«
Er ließ ein höfliches Lächeln aufblitzen. »Hast du die Leiche gesehen?«
Paddy nickte. »Sie sind zu mir nach Hause gekommen und haben
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