Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
packte ihn am Unterarm und zog ihn in die Wohnung. »Steven! Komm rein!«
Schlangenauge sah von einem zum anderen, streckte aber Steve seine Hand hin. »Wie geht’s?«, fragte er. »Schön, Sie kennenzulernen.«
»Hi.« Steve war jung und wohlerzogen. Er gab dem Mann die Hand und stellte sich vor. Er sagte, er sei von der Mail on Sunday und habe eigentlich gar nicht kommen wollen, aber der Redakteur habe ihn noch einmal losgeschickt. Er sei noch neu in dem Job.
»Tut mir leid«, Paddy lächelte Schlangenauge an, »ich habe Ihren Namen vergessen.«
Seine Augen flatterten nach links, deuteten auf eine Lüge hin. »Michael Collins«, sagte er und ließ Stevens Hand fallen.
Steven konnte mit dem Pseudonym nichts anfangen, aber Paddy schauderte. Der republikanische Held dieses Namens blieb aus vielerlei Gründen unvergessen, unter anderem, weil er einer der Anführer des Unabhängigkeitskrieges war, der mit dem Rückzug der Briten aus Irland endete, den anglo-irischen Vertrag mitunterzeichnete und in dem brutalen Bürgerkrieg starb, der nach dessen Inkrafttreten ausbrach. Paddy war vor allem in Erinnerung geblieben, dass Collins in seiner Funktion als Geheimdienstschef der IRA die Zwölf Apostel gegründet hatte, eine Kommandoeinheit zur Spionageabwehr. Am ersten Blutsonntag 1920 brachten sie vierzehn britische Agenten in einer einzigen Nacht um, indem sie sie entweder erschossen oder ihnen die Kehlen aufschlitzten.
»Wie konnte ich das vergessen?«, sagte sie ernst und ließ ihn damit wissen, dass sie ihn verstanden hatte. »Und Sie wollten gerade gehen, ja?«
»Nein«, lächelte Michael Collins, »Sie wollten mir gerade einen Tee anbieten.«
Sie sahen einander an. Wenn er eine Pistole hatte, war sie direkt vor der Tür nicht sicherer als drinnen. Und in der Küchenschublade waren die Messer. »Natürlich.«
Die Küche war groß genug, sodass ein Tisch mit vier Stühlen darin Platz hatte, aber nicht groß genug, um sich bequem um die Möbel herum bewegen zu können. Steven und Michael setzten sich, während Paddy Wasser in den Kessel füllte, sich seitlich am Tisch vorbeischob und ihre Rücken streifte, als sie nach Teebeuteln und Zucker griff. Steven fing mitten in die Stille hinein an, über Glasgow zu plaudern, warum es ihn hierherverschlagen habe und dass es für einen Journalisten am Beginn seiner Karriere der beste Ort überhaupt sei, weil hier ein harter Konkurrenzkampf herrsche. Der beste Übungsplatz der Welt. Hier lerne man richtig aggressiv zu sein, die Initiative zu ergreifen und sich eigene Geschichten zu suchen. Eine Pause entstand und niemand sprang ein. Er vermisse natürlich seine Freunde von der Uni, er sei schon ein bisschen isoliert, so ganz allein hier oben, aber die Vorteile würden trotzdem überwiegen.
Collins ließ sich nichts anmerken. Er hörte höflich zu, währenddessen seine Hände unnatürlich reglos auf der Tischplatte ruhten.
Er ließ sich durch Stevens Anwesenheit nicht irritieren. Dadurch wurde sein Vorhaben vielleicht etwas komplizierter, aber nicht unmöglich. Vielleicht würde er sie beide umbringen – das wurde ihr plötzlich klar, als sie die Becher aus dem Küchenschrank nahm. Sie musste ans Telefon gelangen. Sie schaltete den Kessel ein, stellte die Becher auf den Tisch und holte die Milch aus dem Kühlschrank.
»Kekse?«
Steven sagte, ja, er hätte sehr gerne einen Keks, er habe noch gar nicht zu Abend gegessen, und Paddy glitt aus dem Raum.
Sie trat in ihr Arbeitszimmer. Die Bruchstücke ihres erfolglosen Kolumnenversuchs lagen noch auf dem Tisch, der Brief von Johnny Mac lehnte an der Schreibmaschine, ebenso die leere Packung Chips, die sie aus Dubs Knabberschublade stibitzt hatte. Steven plauderte munter weiter, zu spät wurde ihr bewusst, dass seine Stimme lauter geworden war, dem Mann folgend, der hinter ihr hergeschlichen war. Hastig griff sie nach dem Telefon.
»Ich möchte nur mit Ihnen reden.«
Sie hielt den Hörer fest umklammert vor ihrer Brust und drehte sich zu ihm um. Der säbelförmige Brieföffner lag rechts auf dem Tisch und sie konnte die Spitze im Schatten der Schreibmaschine sehen.
»Ehrlich.« Er trat auf sie zu, ein fieser Typ, ein Lügner, ein echter Apostel. »Nur reden.«
Sie schwitzte, wollte seinem sauren Atem ausweichen, wagte aber kaum, sich zu bewegen. »Worüber?«
Er sah sich in dem schummrigen Raum um, betrachtete die Kiefernholzregale, ihren alten Schreibtisch, dessen Kunstlederoberfläche mit Brandlöchern übersät war,
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