Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
aufschraubte.
Sie setzte sich. Terrys Kiste war wunderbar, sehr schön gearbeitet und aus dickem, makellosem Holz. Sie hob den Deckel. Sie war mit bräunlich verblichenem, ursprünglich einmal fliederfarbenem Samt ausgeschlagen. Die meisten Fotos zeigten Terry, als Baby, als Kleinkind in einem Garten, Terry in Petes Alter, wie er stolz und steif in einer brandneuen Schuluniform dastand, Terry als molliger Teenager, die Haare hingen ihm über die Augen, er trank Cola und lachte. Mit seinem siebzehnten Lebensjahr hörten die Fotos schlagartig auf, damals waren seine Eltern gestorben. Da waren Fotos von ihnen und einige noch ältere Schwarz-Weiß-Aufnahmen von einer alten Dame vor einem Kaminsims aus Eiche, und von der Hochzeit seiner Eltern. Seine Mutter trug einen Bob und lächelte schüchtern. Ganz unten lagen kleine namenlose Andenken: ein Zeitungsartikel über eine Schulaufführung, Terrys Name war unterstrichen, ein Katzenhalsband mit plattgedrücktem Glöckchen daran und zwei zusammenpassende Eheringe an einem kurzen grünen Band, seiner und ihrer.
Seine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie küsste das staubige Band und war traurig; ob sie um ihn oder seine Eltern trauerte, wusste sie nicht. Wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie vielleicht zugeben müssen, dass sie um ihn trauerte.
Sie begriff, dass dies seine wichtigsten Familienerinnerungen waren, was bedeutete, dass sich in dem braunen Ordner, den Fitzpatrick in seinem Büro hatte, etwas ganz anderes befand.
Sie legte die Bilder in die Schachtel zurück, schloss sie und wischte mit der Hand über den Deckel, stellte sie sachte auf den Stuhl neben sich und wandte sich der Mappe zu.
Sie war schwarz, durch den Staub im Schrank leicht angegraut, ansonsten aber genau dieselbe Mappe wie Kevins. Vielleicht hatten sie sie gemeinsam gekauft. Terry hatte Schreibwaren immer gemocht. Er verwendete Notizbücher von Moleskine, wenn er reiste – in einem Koffer in der Truhe hatte sie eine Schachtel voller zerfledderter Notizbücher gefunden.
Sie zog das Gummiband ab und öffnete die Mappe, hob die einzelnen Seiten Fotopapier aus der Lasche heraus und legte sie auf den Tisch. Ein kleiner Moleskine-Block steckte hinten drin. Sie blätterte ihn durch, las Terrys krakelige Kurzschrift und begriff, dass es sich um die Notizen zu den Interviews der Fotografierten handelte, durchnummeriert bis vierzig und mit verschiedenen Daten aus einem Monat des letzten Jahres versehen. Sie sah sich die Bilder an. Senga – New Jersey. Billy – Long Island. Die anderen hatten noch keinen Begleittext, sondern waren einfach nur Fotos, doch alle trugen Kevins ganz besondere Handschrift. Ein strahlendes frisches Licht, gestochen scharfe Farben und eine Person im Vordergrund, die lächelte oder auch nicht, schön war oder auch nicht, aber alle mit entspannten, ehrlichen und offenen Gesichtern.
Ein schwarzes Gesicht war dabei, eine Frau mit einem aristokratischen afrikanischen Profil, die in New York auf der Sonnenseite einer langen schmalen Straße mit Wohnhäusern aus rotem Backstein stand, an deren Fassaden sich Feuerleitern hinaufschlängelten. Winzige Quarzkristalle glitzerten im Asphalt. Sie lächelte schief, als wollte sie ihre Zähne verstecken und ihr Haar war zu wespenartigen gelbschwarzen Zöpfen geflochten, die um ihren Kopf herumwirbelten.
Wer auch immer die Frau war, Paddy nahm an, sie war froh, in den Staaten zu leben. In Schottland gab es so wenige Schwarze, dass die beiden einzigen dunkelhäutigen Glasgower, die sie kannte, als kleine Berühmtheiten galten. Einer war Akademiker, stammte von den westindischen Inseln, unterrichtete an der Glasgow University und hatte eine Linguistin geheiratet. Der andere war ein junger Mann, Tontechniker an der Scottish Opera, der öfter mal im Chip einen trinken ging. Kevins Frau sah afrikanisch aus und Paddy nahm an, sie müsse von einem wohlmeinenden schottischen Ehepaar adoptiert worden sein und sich so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht haben. Sie wirkte sehr jung für eine Auswanderin.
Paddy betrachtete das Foto eingehend und plötzlich nahm ein Detail im Hintergrund ihre Aufmerksamkeit gefangen. Wäre das Bild kleiner gewesen oder durch das schräg einfallende Licht weniger scharf definiert, wäre es ihr nicht aufgefallen.
Michael Collins war damals schlanker gewesen. Er stand zweihundert Meter hinter der Frau, lehnte an einem großen grünen Wagen. Er trug ein dünnes pfirsichfarbenes Sommerhemd, seine
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