Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
im Raum beobachteten sie, wie sie unsicher zu dem Schreibtisch ging und sich setzte, ihre Umschläge ordentlich aufeinandergestapelt ablegte.
Auch das Schoßäffchen beobachtete sie, weshalb sie zum Computer griff und ihn einschaltete. Der Bildschirm riss grün leuchtend sein Maul auf und wenig später erschien die Benutzeroberfläche.
Sie konnte keinen erfundenen Bericht über einen Besuch bei Callum schreiben. Das war überprüfbar; andere Journalisten würden im Besucherverzeichnis des Gefängnisses nachsehen und entdecken, dass ihr Name nicht drin stand. Wenn sie aber die Wahrheit über seine Freilassung schrieb, würde Sean ihr das niemals verzeihen – sie hatte ihn als Freundin begleitet, nicht als Reporterin. Ich habe auch noch ein Leben außerhalb meines Berufs, ermahnte sie sich: Ich habe ein Leben. Callum war ein lebendes Pulverfass, er wohnte bei Sean, dessen Frau und ihren gemeinsamen Kindern und er wollte nicht, dass über ihn geschrieben wurde. Wenn Callum ihren Namen unter einem Artikel entdeckte, würde er mit Sicherheit Sean die Schuld geben.
Das Schoßäffchen beobachtete sie immer noch und sie rief das Textverarbeitungsprogramm auf.
II
Callum trat aus dem Hauseingang auf die Straße, behielt die Füße gegenüber im Augenwinkel und bog rechts ab, nicht in dieselbe Richtung wie am Vormittag, sondern in die andere. Er widerstand dem Drang, sich nach dem Mann umzudrehen und herauszufinden, ob er ihn beobachtete. Das würde er auch so schnell genug merken.
Er ging weiter, den Kopf hoch erhoben, blieb ganz ruhig, versuchte sich unauffällig zu benehmen, bis er an einer Garageneinfahrt und einer alten Kirche vorbeigekommen war und eine Straßenbiegung erreicht hatte. Erst dort überquerte er die Straße, sodass er sich auf derselben Straßenseite befand wie der Mann.
Callum kannte sich in der Gegend nicht aus, aber er kombinierte messerscharf und umrundete den Häuserblock, suchte nach einem Zugang zu dem Hinterhof mit den überquellenden Mülltonnen. Es war eine Wohnsiedlung aus rotem Sandstein, noch im alten Stil, nicht saniert wie die meisten Gebäude, die er auf der Fahrt hierher gesehen hatte. Schwarzer Ruß lag noch auf den Steinen, die dickste Schicht in den oberen Stockwerken. Im Erdgeschoss kam dort, wo der Regen den Ruß abgewaschen hatte, noch etwas von dem leuchtend roten Stein zum Vorschein. Es war eine Wohnsiedlung wie die, an die er sich noch aus seiner Kindheit erinnerte: schwarz und unfreundlich.
Er fand einen offenen Durchgang und sah hinein. Dort drüben standen die Mülltonnen, dort war auch die Pfütze, an der die Kinder gespielt hatten. Der Mann stand wahrscheinlich in einem der anderen Eingänge und sah auf die Straße. Und er würde sich langweilen, an andere Dinge denken, nicht auf der Hut sein.
Callums Mund war trocken, als er sich flach gegen die Wand presste und in den Hinterhof sah. Grelles Sonnenlicht teilte ihn in zwei Hälften, ließ die Pfütze und die ausgeschlachteten Überreste eines alten Kinderwagens funkeln. Mückenschwärme hingen in der Luft. Es war ein Schultag, aber die Kinder würden bald nach Hause kommen. Elaine hatte die Kleinen im Kinderwagen ausgefahren, war früh losgegangen, weil sie noch ein paar Besorgungen machen wollte, bevor sie zur Schule ging. Sie würde nicht mal mitbekommen, dass er sich aus dem Haus geschlichen hatte, aber er hatte trotzdem nur noch fünfzehn Minuten, danach würden lauter Kinder auf den Hof stürmen.
Er sah zum Haus hinauf. Überall standen die Fenster offen, Küchenfenster. In einem der Fenster sah er die Wasserhähne, ein Wäschegestell an der Decke. Irgendwo dudelte ein Radio eine alte Melodie.
Er ging auf Zehenspitzen, hielt sich im Schatten dicht an der Wand und schlich sich bis zur Haustür.
Dort war er, Rattenschuh, stand fünf Meter von ihm entfernt, an den Eingang gelehnt, legte den Kopf in den Nacken und leerte eine Dose Cola, während er weiter die Straße beobachtete. Callum sah sein eigenes Schlafzimmerfenster, der Vorhang war seitlich ein Stück hochgezogen, dort wo er die ganze Nacht lang die Straße überwacht hatte.
Ein Mann ging auf der anderen Straßenseite vorbei und Rattenschuh verfolgte ihn mit den Augen. Callum streifte sich jeweils mit dem anderen Fuß die Schuhe ab, ließ sie liegen, wo sie hinfielen. Seine bestrumpften Füße nahmen die eisige Kälte des Betons unter sich auf. Der Boden war kalt und feucht. Die Sonne gelangte niemals hier herein.
Er machte einen entschiedenen Schritt
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