Der letzte Winter
wieder woanders, auf der nächsten Hügelkuppe, die andere Seite hinunter, vielleicht schon um die halbe Laufrunde herum. Vielleicht sogar schon im Ziel.
»Warum ausgerechnet die beiden?«, fragte Winter.
Lentner sah ihn wieder an.
»Warum Madeleine und Gloria?«, beharrte Winter. »Warum Sie und Martin?«
»Das … ich … es ist doch Ihr Job, das herauszufinden.«
»Genau, und deswegen stehe ich im Augenblick hier mit Ihnen. Warum Sie?«
Lentner sah aus, als wollte er antworten, aber was in seinem Kopf war, kam nicht heraus. Vielleicht war es nichts. Vielleicht war es alles, die Antwort auf alles.
»Was ist zwischen Ihnen und Peder Holst vorgefallen?«, fragte Winter.
Lentner zuckte zusammen.
»Haben Sie Madeleine danach noch einmal getroffen?«, fuhr Winter fort.
Lentner antwortete nicht. Das war eine Antwort. Er fragte nicht: Danach? Was meinen Sie, Herr Kommissar? Wonach?
»Helfen Sie sich«, sagte Winter.
Lentner schwieg. Ein Jogger kam den Hügel herauf, sie hörten ihn keuchen, bevor sie ihn sahen. Ein Fettkloß im Trikot, seine Atmung klang wie ein Spinnaker bei Sturm. Er würde noch vor dem Ziel tot umfallen.
»Ich habe nichts damit zu tun«, sagte Lentner.
Mit was zu tun? Mit was nichts zu tun? Winter sah den zum Tode verurteilten Schlemmer den Abhang hinunterrollen. Der Trainingsoverall war orange. Auf dem Rücken stand »Dynapac«.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Herr Lentner«, sagte Winter. »Sie brauchen Hilfe.«
»Ich habe nichts getan«, sagte Lentner. Seine Stimme klang jetzt ganz dünn, wie die eines kleinen Jungen. Er sah aus wie ein zehn Jahre alter Junge. Die Sonne versteckte sich hinter den Bäumen. Schatten fiel auf die beiden. Ein kalter Wind kam auf. Der Junge schauderte.
»Nein«, sagte Winter.
»Ich habe nie etwas getan.«
»Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Winter.
Lentner schaute zum Himmel hinauf, als suchte er die Sonne. Etwas Verlässliches. Auf die Sonne hatte man sich verlassen können, nur jetzt nicht. Er sah Winter an. Winter konnte die Gedanken in seinem Kopf, in seinen Augen lesen. Lentner bewegte die Lippen, kaute auf den Wörtern, die er vielleicht aussprechen wollte. Es konnten Erinnerungen sein, für die er noch keine Worte hatte.
»Glauben … glauben Sie, dass … in Spanien etwas … Was da passiert ist … dass es mit … Glorias Tod zu tun hat?«
»Ich weiß es nicht, Herr Lentner.«
»Sie scheinen es aber zu glauben.«
»Sie müssen mir helfen.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen könnte«, sagte Lentner.
»Erzählen Sie mir, an was Sie sich erinnern.«
»Woran … erinnern?«
»Was an jenem Tag im Haus der Familie Holst passiert ist. In Nueva Andalucia.«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Winter sagte nichts, nicht sofort. Eine Joggerin huschte vorbei, diesmal eine magere Frau. Ihre Hüften, verborgen unter schwarzem Stoff, zeichneten sich scharf ab. Die Ablenkung kam ihm gelegen. So hatte der junge Mann mehr Zeit zum Nachdenken.
»Das hat nichts mit der Sache zu tun«, sagte Lentner.
»Was?«
»Das … Nichts. Nichts hat damit zu tun.«
»War noch jemand anwesend?«, fragte Winter. »An dem Tag in Holsts Haus?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine gar nichts. Ich frage, ob Sie allein am Swimmingpool waren.«
»Ich … war wohl allein.«
»Sind Sie sicher?«
Lentner schüttelte den Kopf.
»Kann Sie jemand gesehen haben? Sie beide?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Ich weiß es nicht, jedenfalls im Moment nicht.«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Lentner setzte sich auf eine Bank. Er schaute über das Wasser. Die Oberfläche kräuselte sich leicht, als würde sich darunter etwas bewegen.
»Ich vermisse sie«, sagte Lentner, ohne den Blick abzuwenden.
Er war jetzt allein und folgte der Wanderung der Kamera durch das dritte Zimmer. Den Ton hatte er abgeschaltet. Es gab nur Bilder. Es war das Wissen falls . Ein Versprechen falls . So etwas war vielleicht schon einmal geschehen, in einer anderen Welt, zum Beispiel auf der anderen Seite des Atlantik, aber nie auf diese Weise. Davon war er überzeugt. Keine Bilder von den noch Lebenden. Den Schlafenden. Den zum Tode Verurteilten, den bereits Verhüllten. Im Bett war viel Weiß, die Farbe des Todes. Er konnte nicht erkennen, wer die Frau und wer der Mann war, aber er war überzeugt, dass er sich nicht täuschte. Wenn er den Ort nicht rechtzeitig fand, würde einer leben, einer würde sterben. Noch lebten beide, dessen war er sicher. Falls einer von ihnen starb,
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