Der letzte Winter
Gesicht des Mannes war rot. Aus fünf Meter Abstand röchelte er ihnen etwas zu, was sie nicht verstanden. Er sah wütend aus.
»Wir sind ihm im Weg«, sagte Winter.
Lentner wich keinen Zentimeter zur Seite.
Der Mann schien es darauf anzulegen, mit ihm zusammenzustoßen. Er war in Winters Alter, übergewichtig, nach der Gesichtsfarbe zu urteilen, an der Grenze zum Infarkt. In letzter Sekunde schlug er einen Haken. Es sah aus, als wollte Lentner ihm ein Bein stellen. Ein Zucken in seinem Bein verriet es Winter.
»Tun Sie das lieber nicht«, warnte er.
Lentner drehte sich zu ihm um.
»Sie haben alles gut unter Kontrolle.«
»Sind Sie in Spanien in die Schule gegangen?«, fragte Winter.
Lentner zuckte zusammen.
»Was haben Sie gesagt?«
Winter wiederholte die Frage. Lentner wollte Zeit gewinnen. Eigentlich war es eine ziemlich harmlose Frage. Aber für ihn bedeutete sie mehr, sie bedeutete etwas anderes.
»Nicht lange«, antwortete er.
»Wie lange?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Wie lange?«, wiederholte Winter.
»Ein Jahr etwa.«
»Wie war es?«
Lentner schwieg. Er setzte sich wieder in Bewegung. Winter hörte einen Vogel, ein verirrter Laut, als wäre der Frühling schon vor Neujahr ausgebrochen, und er musste plötzlich an die Geräusche aus dem dritten Zimmer denken. An den dritten Mann. Die dritte Frau. Eine dritte Frau sollte ermordet werden. Davon war er überzeugt. Vielleicht war es schon geschehen. Winter sah Lentners Rücken. Der junge Mann ging immer noch der Sonne entgegen. Sie blendete Winter. Der andere ging schneller. Winter ging schneller. Bald würden sie laufen.
»Warten Sie!«
Lentner drehte sich nicht um. Er hatte schon fast den nächsten Anstieg erreicht. Verdammt, diese Strecke war wirklich hügelig, von Peinigern für Menschen angelegt, die sich gern peinigen ließen.
»Warten Sie, habe ich gesagt!«
Lentner blieb stehen und drehte sich um.
»Geht Ihnen die Puste aus?«
Winter antwortete nicht. Er spürte Schweiß am Haaransatz. Er wollte nicht, dass der jüngere Mann es bemerkte. Es war keine gute Idee gewesen, Ruddalens Joggingweg als Verhörraum zu wählen. Lentner hatte gewusst, was er tat. Jetzt hatte Winter ihn erreicht.
»Wir können auch zum Auto zurückgehen und ins Präsidium fahren«, sagte er.
»Wollen Sie mir damit drohen?«
»Ja. Wenn alles andere nichts hilft.«
»Ich werde versuchen, so langsam wie Sie zu gehen.«
»Ist es in der Schule passiert?«, fragte Winter.
»Warum reiten Sie dauernd auf der Schule herum? Die hat nichts damit zu tun.«
»Womit nichts zu tun?«, fragte Winter.
»Mit dem, was Gloria passiert ist.«
»Und Madeleine«, ergänzte Winter.
Lentner schwieg. Vielleicht nickte er. Winter hörte wieder einen Vogel singen. Ein lautes, einsames Lied, als wäre der Vogel in einem fremden Land zurückgelassen worden, in dem nichts mehr war, wie es einmal gewesen war.
»Sie müssen doch darüber nachgedacht haben, was Madeleine passiert ist«, sagte Winter.
»Natürlich.«
»Warum hatten Sie keinen Kontakt?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sind Sie zusammen in die Schule gegangen?«
»Ja, aber was meinen Sie damit?«
»Sie kannten sich seit Ihrer Kindheit. Sie hielten sich regelmäßig bei ihr zu Hause auf. Sie sind in Spanien bei der Familie ein und aus gegangen. Wann haben Sie aufgehört, sich zu treffen?«
»Das ist lange her.«
»Warum haben Sie aufgehört?«
»Ich weiß es nicht.« Lentners Blick wich aus. Es gab Bäume, die er betrachten konnte, nasse Sägespäne, Erde, wintergrüne Vegetation, den blauen Himmel zwischen den Bäumen. Im Augenblick waren keine Jogger unterwegs. Lentner sah Winter an. »Das hat nichts zu bedeuten.«
»Haben Sie sich in Göteborg getroffen?«
»Wann?«
»Jetzt. Als Erwachsene, in der letzten Zeit.«
»Nein.«
»Nie?«
»Nein. Danach haben doch schon die anderen gefragt.«
»Ich frage noch einmal.«
»Und ich sage nein.«
»Haben Sie Martin gekannt?«
»Martin?«
»Madeleines Lebensgefährten. Martin Barkner. Sie wissen, wen ich meine.«
»Ich kenne ihn nicht.«
»Warum haben Sie den Umgang mit Madeleine abgebrochen?«
»Herr im Himmel, wir waren Kinder. Wir haben uns kennengelernt, als wir Kinder waren! Treffen Sie heute noch all Ihre Spielkameraden von früher?«
»Einige«, sagte Winter.
»Dasselbe gilt für mich. Aber es bedeutet nicht, dass ich alle treffe.«
»Verstehen Sie eigentlich, warum ich Ihnen diese Fragen stelle?«
Lentner antwortete nicht. Sein Blick war
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