Der letzte Winter
nicht zu den Ersten?«
»Nein.«
»Aber Sie wollten die Sonnenküste nicht aufgeben?«
»Nein.«
»Wohin sind Sie gezogen?«
»Das … Sie wissen es sicher. Sie scheinen ja fast alles zu wissen. Der Ort war etwas abgelegener … näher bei den Bergen. Auf der anderen Seite von Marbella. Er heißt Los Molineros.«
Winter nickte.
»Kennen Sie ihn?«
»Ja.«
»Wie ist das möglich?«
»Ich bin einige Male dort unten gewesen.«
»Ach. Und warum?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Winter. »Erzählen Sie von Los Molineros.«
»Wir sind dort hingezogen. Mehr nicht. Und jetzt besitzen wir gar nichts mehr an der Sonnenküste. Wir sind für immer nach Hause zurückgekehrt.«
»Warum?«
»Es wurde … ich weiß nicht, in Los Molineros wurde schließlich auch zu viel gebaut. Die Stille verschwand. Die Ruhe. Und es wurde uns zu heiß. Es ist viel zu heiß in Spanien. Zu viel Sonne. Heute ist die ganze Küste eine einzige Baustelle.«
»Was ist mit Erik passiert?«, fragte Winter.
Das war eine Frage wie aus der Hüfte geschossen. Er wusste nicht, ob sie dafür bereit war. Sie reagierte mit einem Ruck, der jedoch wie eingeübt wirkte. Oder auch nicht. Als hätte sie damit gerechnet, dass diese Frage kommen würde, jedoch nicht, wann, und nicht, in welchem Zusammenhang.
»Jetzt verstehe ich Sie nicht«, sagte sie.
»Mit ihm ist irgendetwas passiert, als er klein war.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Sind Sie deshalb weggezogen?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Warum spricht keiner darüber?«
»Worüber?«
»Niemand will sich dazu äußern«, sagte Winter. Seine Stimme hätte ärgerlich klingen können, aber sie klang nur traurig. Jedenfalls fand er selber, dass sie traurig klang.
Louise Carlix schwieg.
»Es hat den Anschein, als hätten alle Erik im Stich gelassen«, sagte Winter. »Damals und vielleicht auch heute.«
Sie zuckte wieder zusammen.
»Was ist passiert?«, fragte Winter.
Er meinte, Geräusche aus dem oberen Stockwerk zu hören. Vielleicht waren es Schritte. Die Geräusche verstummten. Er schaute hinauf und wandte sich dann wieder ihr zu.
»Was ist da unten passiert?«
»Alles hat sich verändert«, sagte sie.
27
E rik Lentner durfte den Treffpunkt bestimmen. Winter bestimmte den Zeitpunkt. Lentner schlug Ruddalen vor. Sie trafen sich auf dem Parkplatz und begrüßten sich mit Handschlag. Sie wählten die längere, hügelige Bahn gegen den Uhrzeigersinn. Einige Läufer schleppten sich an ihnen vorbei auf einer Runde zwischen den Feiertagen, voller Gewissensbisse. Zum Skifahren reichte der Schnee nicht. Sie kamen an der Eishalle vorbei. Die Läufer hinter dem Glas sahen aus wie mittelalterliche Figuren. Das lag an den Trikots, den Hauben, den Schlittschuhen, die Lederpantoffeln glichen. In der Halle herrschte gebeugtes Leid, ewig und zeitlos wie die Eiszeit. Ein Gemälde von Hieronymus Bosch. Winter dachte an die alptraumartigen Visionen des Malers, die makabren Details. Sie gingen weiter den steilen Abhang hinauf. Winters Puls schlug schneller, das ärgerte ihn. Er müsste häufiger trainieren. Sein letztes Training lag schon lange zurück. Ein ausgedehntes Saunabad nach dem Laufen. Das war die Belohnung. Ein Pils. Er hörte Lentner atmen.
»Finden Sie es anstrengend?«
»Sie strengt es mehr an, wie ich höre«, sagte Lentner.
»Kein Problem.«
»Ich durfte in der Untersuchungshaft nicht trainieren, wie ich wollte«, sagte Lentner.
»Was wollten Sie trainieren?«
»Trapezius.«
»Die Schultern«, sagte Winter.
»Sind Sie nebenbei auch noch Arzt?«
»Meine Frau.«
»Wo?«
»Beim Sahlgrenska.«
»Wie heißt sie?«
»Angela Hoffmann-Winter.«
»Ist sie Deutsche?«
»Ja. Und Schwedin.«
»Aha.«
»Fühlen Sie sich manchmal wie ein Spanier?«
Lentner blieb stehen. Sie hatten fast den höchsten Punkt erreicht. Winter atmete ruhiger. Es waren nur die ersten Schritte gewesen. Er spürte, wie sein Puls langsam wieder normal schlug. Und er hatte einen Arzt neben sich. Er war in sicheren Händen.
»Warum zum Teufel sollte ich mich wie ein Spanier fühlen?«
»Haben Sie nicht viel Zeit Ihres Lebens in Spanien verbracht?«
»Wir sind die Kanaken der Sonnenküste«, sagte Lentner. »Dort sind wir die Einwanderer. Die Leute verachten uns. Die Schweden. Und die Deutschen und Engländer.«
»Wer?«
»Wer was?«
»Wer verachtet Sie?«
»Die Spanier natürlich.«
»Sind Sie sicher?«
Lentner antwortete nicht. Ein Läufer kam den nächsten Hügel heraufgekeucht. Das
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