Der letzte Winter
Ringmar.
Winter antwortete nicht. Er sah zu der Kreuzung, zu Ringmars Auto. Das Haus dahinter erglühte in graublauem Kunstlicht. Die gelb leuchtenden Fenster wirkten feierlich. Aber vielleicht beeinflusste das feierliche Datum den Eindruck.
Wenn er die Augen schloss, sah er den Film vor sich. Er brauchte sie nicht zu schließen. Der dritte Film. Was bezweckt er damit? Warum zeigt er uns den Film? Warum hat er ihn aufgenommen , ausgerechnet mir geschickt? Darin ist mehr als eine Botschaft enthalten. Warum habe ich die Filme bekommen? Bin ich der Einzige von allen, der sie verstehen kann? Kann nur ich den diskreten Charme der Oberschicht erkennen? Kann nur ich die Codes lesen? Was sind die Codes? Habe ich versagt? Habe ich die Erwartungen nicht erfüllt? Jetzt habe ich Hunger. Von Ming weht ein Duft herüber. Bertil riecht es auch. Er sieht besorgt aus. Ist nicht sein Sohn aus Malaysia zu Besuch? Was ist geschehen? Hat es wieder Krach gegeben? Warum ist er nicht längst zu Hause? Fahr heim, Bertil. Begeh eine zivilisierte Tat, trink Whisky.
»In dem Bett haben zwei Körper gelegen«, sagte Winter.
»Ja.«
»Sie haben sich bewegt. Sie haben geatmet. Sie waren lebendig.«
»War es vielleicht doch ein Trick?«
»Nein, nein.«
»Technische Illusion.«
»Nein, nein.«
»Wo befinden sich die Körper jetzt?«
»In der Nachbarwohnung. Wir haben gerade eben einen netten Schwatz mit ihnen gehabt.«
»Das wäre perfekt«, sagte Ringmar.
»Sie sind schließlich Schauspieler. Gute Schauspieler.«
»Warum sagst du Schauspieler?«
»Es ist ein Schauspiel. Eine Bühne. Wir haben soeben eine Bühne gesehen.«
Ringmar drehte sich wieder um, schaute zum Haus. An einem Fenster weiter links sah er eine Silhouette, die sich rasch zurückzog.
»Sie beobachtet uns.«
»Das würde ich auch tun.«
»Ich glaube, sie ist keine gute Schauspielerin.«
»Nein.«
Ringmar sah Winter an.
»Und warum? Warum das ganze Theater?«
»Es waren zwei lebende Personen«, sagte Winter. »Es war ein Paar.«
»Erst hat er sie betäubt, und dann hat er sie gefilmt.«
»Was hat er danach gemacht, Bertil?«
»Zeit für den Umzug.«
»Ja.«
»In der Nacht zu Mittwoch. Es ist in der Nacht zu Mittwoch passiert. Irgendetwas ist passiert.«
»Aber wir werden keine Spuren in der Wohnung finden«, sagte Winter.
»Jetzt bist du pessimistisch.«
»Er ist zu genau.«
»Nicht wenn er zwanghaft handelt.«
»Zwanghaft geschickt.«
»Wie wir.«
»Den Beweis sind wir noch schuldig.«
»Genau«, wiederholte Ringmar Winters Wort.
»Es gibt kein Blut«, sagte Winter. »Er mag kein Blut.«
»Das macht das Ganze noch unheimlicher«, sagte Ringmar.
»Ja, nicht wahr? Blut ist irgendwie verlässlicher.«
»Und banaler«, sagte Ringmar.
»Wollen wir fahren?« Winter zeigte mit dem Kopf auf Ringmars Volvo, der düster wirkte im melancholischen Abendlicht.
»Sollten wir wohl«, sagte Ringmar.
»Willst du weiterjagen?«
Ringmar antwortete nicht.
»Was ist los, Bertil?«
»Nichts.«
»Hast du Appetit auf Steinbutt?«
»Ich will mich nicht aufdrängen.«
»Ist dein Haus dunkel?«
»Leider.«
»Möchtest du, dass ich weiterfrage?«
»Lieber nicht.«
Winter schaute auf die Uhr. »Dann lass uns fahren.«
»Willst du nicht herausfinden, wem die Wohnung gehört?«
»Ich habe ja bei der Verwaltung angerufen.«
»Und niemanden erreicht.«
»Daraufhin habe ich den Diensthabenden bei der Kripo verständigt.«
»Vielleicht ist der Besitzer unser Mann.«
»Keinesfalls.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«
»Das macht mich zu dem, der ich bin.«
»Klar, Erik.«
»Jetzt fahren wir«, sagte Winter.
Ringmar fuhr die Kristinelundsgatan in westlicher Richtung, vorbei an der Chalmersgatan, und bog nach links in die Götabergsgatan ein. Winter sah die Silhouette der Vasakirche vor dem Himmel. Dort drinnen war Gott, falls er ihn brauchte. Oder zumindest eine Kontur von Gott. Er hatte ihn schon einige Male in dieser Kirche gesucht. Er bereute es, gedacht zu haben, dass er religiös werden würde, wenn es einen Gott gäbe. Gott gab es, wenn man ihn für das nahm, was er war. Vielleicht war er auch arm und sündig, womöglich einsam. Winter durchzuckte ein Impuls, Ringmar zu bitten, an der Götabergsgatan anzuhalten. Er könnte die Treppen hinaufgehen und die Wohnung betreten, die immer noch abgesperrt war. Sich eine Weile darin aufhalten. Auf etwas lauschen, das es dort vielleicht gab. Aber er wusste, dass er die ganze Nacht bleiben würde, wenn er
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