Der letzte Winter
Sonne und doch irgendwie klar, wie durchsichtig. Das war kein Dezemberlicht. Es trug ein Versprechen für etwas anderes in sich. Etwas Böses, dachte er. Mit ein wenig Phantasie konnte er im Süden bis zu seinem eigenen Strand sehen. Er benutzte sie. Er sah den Strand. Er selbst stand dort. Seine Familie stand hinter ihm, seine Frau, seine Kinder. Es waren nicht viele Meter. Er hatte den Blick auf das Meer gerichtet, nach Nordwesten. Auf sich selbst. Er sah sich selbst. Plötzlich näherte er sich der Gestalt am Strand, die er selber war. Jetzt sah er, dass er sich umdrehte und etwas rief, seiner Familie, den Kindern etwas zurief … Er konnte es nicht ganz klar sehen, Wasser war im Weg. Er lag im Wasser. Er trieb auf dem Wasser. Jetzt schaute er hoch, sah sich selber. Der da oben sagte etwas zu dem da unten. Wer bist du? Woher kommst du? Was machst du hier? Dies ist ein Privatgrundstück. Sei so gut und treib weiter.
Winter wurde plötzlich schwindlig. Er machte einen Schritt zur Seite. Himmel, ich will doch nicht ins Wasser fallen. Wieder dröhnte es in seinem Schädel, er hatte ein Gefühl, als würde er fallen, als würde er mit entsetzlicher Kraft sinken, als würde er in einem U-Boot herumrollen, das sich in die Tiefe bohrte auf der Flucht vor den Torpedos. Nein, nein, nein. Nicht das. Es ist vorbei. Alles ist vorbei. Es sollte nie wiederkehren. Da ist doch nichts, was zurückkommen kann! Die Kopfschmerzen sind für allezeit weg, und mit ihnen dieses verdammte Schwindelgef … Er spürte, wie es nachließ, wie es ihn losließ und davonströmte über das Meer, plötzlich ganz leicht, wie ein Sommerwind, unsichtbar, ungefährlich. Ein freundlicher Wind, ein guter Wind.
Winter fuhr über Fiskebäck und Påvelund zurück in die Stadt. Er fühlte sich wieder besser, normal, wie immer. Normal war, dass es ihm gutging. Er würde weiterhin ein fröhlicher, glücklicher Mensch bleiben. Alles andere gehörte der Vergangenheit an, und die Vergangenheit existierte natürlich nicht, genauso wenig wie die Zukunft. Man konnte sie nicht mit der Hand greifen und festhalten. Das war, als würde man nach dem Sonnendunst über dem Meer greifen. Und das alles war jetzt verschwunden, war über den Rand geglitten. Der Abend war da, oder die Nacht, wenn man so wollte, die Dunkelheit.
Er parkte vor dem Haus in Hagen. Alle Fenster waren wie zum Willkommen erleuchtet, in jedem standen elektrische Adventskerzen. Im Garten stand eine beleuchtete Tanne. Winter dachte an Bertils Nachbarn, der sein ganzes Haus und Grundstück den halben Winter über illuminiert hatte wie Manhattan und Bertil damit wahnsinnig machte, Jahr für Jahr, und dann, gänzlich unerwartet, gerade vor einer Woche, war der Nachbar von einem Herzinfarkt überrascht worden, als er gerade dabei war, Tausende Meter von Kabeln und Leitungen zu ziehen, die nötig waren, um den Flimmerwahnsinn möglich zu machen. Er war einfach umgefallen, als er dort stand und an den Strippen zog. Seine Frau hatte ihn gefunden und einen Krankenwagen gerufen. Bertil war nicht zu Hause gewesen, als es passierte, aber Winter hatte ihn in Verdacht, Voodoo-Zauber zu betreiben. Er hatte eine Stecknadel auf dem Fußboden von Bertils Büro gefunden. Eines Tages hatte eine seltsame Puppe im Regal gesessen. Für die Enkel, hatte Bertil behauptet. Aber Bertil hatte keine Enkel.
Siv Winter hatte vier Enkel, lauter Mädchen: Elsa und Lilly, Bim und Kristina. Winters Schwester Lotta öffnete die Tür, nachdem er geklingelt hatte.
»Das ist ja eine Überraschung«, sagte sie.
»Hoffentlich eine gute.«
Sie lächelte. Es war noch gar nicht lange her, da hatte sie ihn nicht angelächelt. Im Herbst hatte er … ja, wie sollte man es nennen, Kontakt zu einem renommierten Göteborger Gangster aufgenommen, und dieser Mann hatte, wenngleich kurz, eine Affäre mit Lotta gehabt. Winter hatte versucht, den Umstand auszunutzen, da der Gangster Lotta nicht vergessen konnte. In seiner Welt war sie zu einem Engel geworden. Vielleicht bildete er sich ein, sie könnte ihn vor dem Ort retten, an den alle Sünder nach ihrem Erdenleben verbannt wurden. Er hatte Winter das Leben gerettet, buchstäblich und sehr gewaltsam. Seitdem hatte Winter nichts mehr von Benny Vennerhag gehört. Vielleicht hatte Benny seine gute Tat verdrängt. Oder er wartete den richtigen Zeitpunkt ab, um seine Belohnung einzufordern. Die Geschwister sprachen nicht darüber, niemals. Winter folgte Lotta ins Haus. In der Küche duftete es nach
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