Der letzte Winter
»Was ’n das für’n Typ?«
»Bulle, hab ich doch gesagt!«
Winter stieß sich ab, um so schnell wie möglich wegzukommen.
»Ich seh alles!«, sagte Tommy. »Hab ich das nich’ schon mal gesagt? Hä?! Ich seh alles! Ich erkenn jeden wieder. Ich hab dich auch wiedererkannt, oder etwa nich’?«
»Du hast mich wiedererkannt.«
»Ich erkenne jeden wieder!«
»Wie geht’s deinem Sohn?«, fragte Winter.
»Was? Was meinst du?«
»Dein Sohn. Der Hockeyspieler. Alles in Ordnung mit ihm?«
»Äh … ja, alles okay.«
»Gut«, sagte Winter, »jetzt muss ich los.«
»Was meinst du damit, dass alles in Ordnung mit ihm ist?«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Du has’ gefragt!«
Der Hockeyweihnachtsmann packte den Lenker und begann, daran zu zerren.
»Lass los«, sagte Winter.
»Dir passt es wohl nicht, dass ich ein bisschen Weihnachten feiere, Bulle? Dass ich mir ein bisschen Urlaub gönne. Zeitungen verscherbeln kann man ja immer! Aber das gefällt dir wohl nicht, was, du feiner Pinkel!«
»Lass den Lenker los«, wiederholte Winter.
»Mensch, lass los!«, rief der andere Weihnachtsmann. »Das is’ doch ’n Bulle.«
Tommy ließ nicht locker. Sein Gesicht drückte verschiedene widersprüchliche Gefühle aus. Eins davon war Trauer. Winter wollte ihm keine langen. Er wollte ihn nicht verurteilen. Er wusste nichts und hätte nicht von dem Jungen anfangen sollen. Tommy ließ den Lenker los. Der Mann wandte das Gesicht ab. Winter radelte von der Brücke herunter in den Park. Das Weihnachtsgefühl war verflogen, bevor es sich überhaupt eingestellt hatte.
15
A ls die Kinder eingeschlafen waren, empfand er für einen Moment das Gefühl von Einsamkeit. Nein, nicht Einsamkeit. Es war etwas anderes, vermutlich Wehmut. Er wusste nicht genau, was Wehmut war, aber das könnte es sein. Ein Gefühl ohne Boden. Nichts, worauf man die Füße stellen konnte. Man musste sie lassen, wo sie gerade waren, auf einem Hocker. In der Wohnung war es still, keine Musik, keine Stimmen. Angela war noch in Lillys Zimmer. Sie musste neben Lilly liegen, bis das Kind eingeschlafen war. Gestern Abend hatte er dort gelegen. Jedes Mal, wenn er aufstehen wollte, hatte Lilly gefragt, was er mache. Vielleicht würde es heute Abend reibungsloser gehen. Er glaubte, dass Lilly jetzt schlief. Und Angela vermutlich auch. So war es häufig. Er war allein mit seiner Wehmut und dem Whiskyglas. Er hielt den Tumbler in den schwachen Lichtschein der Stehleuchte in der Ecke. Die Farbe des Maltwhiskys war hell. Whisky, der aus dem Tiefland kam, war immer hell. Winter kostete. Marshmallow? Vielleicht geröstete Marshmallows. Ein wenig süß, ein wenig trocken. Kokosnuss? Aber zwischen Glasgow und Dumbarton, wo Littlemill, Schottlands älteste Destille, lag, wuchsen keine Kokospalmen.
Er hörte ein Geräusch. Es war Angela, die durch den Flur taumelte und zur Toilette ging. Das Geräusch der Spülung. Hoffentlich wurde Lilly davon nicht wach.
Angela kam ins Zimmer.
»Ich bin eingeschlafen«, sagte sie.
»Hm.«
»Es ist aber auch fast Zeit, ins Bett zu gehen.«
»Du wirst schon wieder munter.«
Sie schaute zu der Whiskyflasche auf dem Tisch.
»Dann brauch ich so einen.«
Er stand auf und holte einen Tumbler aus dem alten Buffet neben der Stehleuchte. Er hatte aufgehört, Maltwhisky aus den dünnen Probiergläsern zu trinken. Daraus schmeckte er ihm nicht mehr.
Er stellte das Glas vor sie hin und schenkte ihr ein.
»Bitte nur ganz wenig«, sagte sie.
Er setzte die Flasche ab.
Angela kostete und zog eine Grimasse. Das war er gewöhnt. Sie stellte das Glas auf den Tisch.
»Was hältst du davon, wenn wir diesmal alle zusammen Weihnachten bei uns feiern?«, fragte sie.
»Alle zusammen? Wen meinst du damit?«
»Na, die ganze Sippe.«
»Wollten wir nicht bei Lotta feiern?«
»Wir haben in den vergangenen Jahren immer bei ihr gefeiert. Kann Heiligabend dieses Jahr nicht mal bei uns stattfinden? Das letzte Mal ist schon so lange her. Und jetzt ist Siv ja auch im Lande.«
»Hast du schon mit Lotta gesprochen?«
»Nein.«
»Und wenn es sie kränkt?«
»Ich glaube, sie ist erleichtert. Ich wäre es.«
»Hm.«
»Jeder kann ja etwas beisteuern.«
»Nein. Wenn wir schon einladen, dann richtig.«
»Schaffen wir denn das alles? Es ist nur noch eine knappe Woche bis Weihnachten.«
»Der Vorschlag kam von dir.«
»Vielleicht sollte doch jeder etwas mitbringen.«
»Nein. Wir schaffen es allein.«
Sie schwieg. Vielleicht überlegte sie, wie er es
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