Der letzte Winter
Der Junge wusste nicht genau, was passiert war oder was er getan hatte. Er sollte es jetzt erzählen.
Barkner hob den Blick zu etwas hinter Edlund, der wusste, was hinter ihm war, nämlich nichts. Der Raum war absichtlich so eingerichtet. Es sollte nichts anderes darin geben als die beiden Personen, die einander gegenübersaßen, und die Worte zwischen ihnen. Aber die unterschieden sich, jedes Verhör war anders.
»Ich habe es nicht getan«, sagte Barkner. »Falls Sie mich für den Täter halten, dann täuschen Sie sich.«
Seine Stimme klang merkwürdig hohl, aber gleichzeitig energisch. Edlund hatte viele Stimmen viele Worte aussprechen hören, und er hatte gelernt, sie zu unterscheiden, Unterschiede herauszuhören. Die Worte waren nur die oberste Schicht. Alles andere verbarg sich darunter.
»Was haben Sie nicht getan?«
Barkner antwortete nicht.
»Was haben Sie getan?«, fragte Edlund.
»Was? Wie bitte?«
»Erzählen Sie, was Sie heute Nacht getan haben. Dann können wir das hier abschließen. Sie möchten sich vermutlich ausruhen.«
»Ich muss mich nicht ausruhen! Warum sollte ich?«
»Erzählen Sie.«
»Was? Was soll ich erzählen?«
»Warum Sie sich ausruhen müssen.«
»Aber ich muss mich nicht ausruhen! Ich hab geschl… Ich habe fast die ganze Nacht geschlafen, verdammt.«
Das war ein starkes Wort. Aber der Junge wirkte nicht aggressiv. Er sah eher … erstaunt aus. Erstaunt darüber, dass er fast die ganze Nacht geschlafen hatte. Wie war das möglich gewesen?
»Was hat Sie geweckt, Herr Barkner?«
Martin Barkner antwortete nicht.
»Sie sind doch aufgewacht, oder?«
Barkner nickte.
»Was ist da passiert?«
»Ich … ich bin aufgewacht. Ich weiß nicht … ich bin einfach aufgewacht.«
Edlund nickte.
»Und … ich hab was zu Made… Madeleine gesagt. Sie lag … sie lag da … das Kissen üb… über …«
Seine Stimme versagte.
Edlund wartete.
Nach einigen Minuten putzte Barkner sich hörbar die Nase mit einem Papiertaschentuch, das er aus einem Kästchen auf dem Tisch nahm. Das Verhör war gut vorbereitet. Viele weinten bei Verhören, manchmal sogar der Verhörleiter, auch wenn Edlund noch nie von einem derartigen Fall in Schweden gehört hatte.
»Können wir weitermachen, Herr Barkner?«
Barkner nickte.
»Was ist passiert, als Sie wach wurden?«
»Ich … ich habe sie gesehen.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Sie. Das habe ich gesehen.«
»Sie sagten etwas.«
»Wie bitte?«
»Sie haben sie angesprochen.«
»Ja … das stimmt. Das muss ich doch getan haben, oder?«
Edlund schwieg. Er nickte nicht.
»Sie lag da mit dem Kissen auf dem Kopf, über dem Gesicht.«
»Woher wissen Sie, dass sie ein Kissen über dem Gesicht hatte?«
»Wie bitte?«
»Es hätte auf ihrem Nacken liegen können. Sie könnte auf der Seite gelegen haben. Oder auf dem Bauch.«
»Nein. Ich sah … wie sie lag. Und ich …«
Er verstummte.
Edlund nickte. »Erzählen Sie, was Sie getan haben.«
»Ich habe das Kissen weggenommen.« Barkner beugte sich vor. Er sah plötzlich wichtig aus, als hätte er eine Botschaft, die die Wahrheit war. Edlund hatte auch das schon viele Male gesehen. Es war nicht die Wahrheit, jedenfalls noch nicht. Für die Wahrheit war es noch zu früh. »Es ist doch nicht verwunderlich, dass ich es weggenommen habe? Sie antwortete nicht! Ich wollte … wollte wissen, warum sie nicht antwortete.«
»Haben Sie nicht gedacht, dass sie schläft?«
Barkner schien die Frage nicht verstanden zu haben.
»Es war Nacht«, sagte Edlund. »Sie werden wach und sprechen Ihre Partnerin an, aber sie antwortet nicht. Ist es denn so merkwürdig, dass sie nicht antwortet?«
Barkner blieb stumm.
»Wollten Sie sie wecken?«
»Die Nacht war fast vorbei«, sagte Barkner. »Es war fast Morgen.«
»Warum wollten Sie sie wecken?«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Warum wollten Sie sie nicht weiterschlafen lassen?«
Barkner betrachtete wieder die Wand hinter Edlund. Dort gab es keine Antworten, viele hatten schon Antworten in dem stahlgrauen Licht mit den scharfen Schatten gesucht, aber in diesem Zimmer gab es keine Schrift an der Wand.
»Wir hatten uns gestritten. Abends … bevor wir eingeschlafen sind. Wahrscheinlich wollte ich darüber mit ihr reden. Ich wollte, dass alles wieder gut wird.«
Edlund wartete ab. Er wollte, dass alles wieder gut wird, aber es würde nie mehr gut werden. Von dieser Nacht an war das Wort »gut« aus Barkners Leben ausradiert.
»Worüber haben Sie sich
Weitere Kostenlose Bücher