Der letzte Winter
enormes Zimmer. Das Doppelbett war nicht klein, aber es war nur eines der Möbelstücke im Raum, die sich gewissermaßen in alle Richtungen über den glänzenden Holzfußboden verteilten. Sie sah einen Tisch, einige Stühle, Bilder an den Wänden. Auf den Nachttischchen Bücher, ein Telefon, Leseleuchten. Sie sah die Flügeltür zum Balkon. Der auch nicht gerade klein zu sein schien. Draußen war es noch immer dunkel. Es war Winter. Auf der Fahrt durch die Stadt war ihr durch den Kopf gegangen, dass dies die erste Winternacht war, und bald würde der erste Wintertag anbrechen. Einmal musste der Winter ja beginnen, und das war jetzt.
Der Mann senkte die Arme.
»Ich war es nicht!«, sagte er. »Ich habe es nicht getan!« Er sah sehr jung aus, fast wie ein Oberschüler. Auch das tote Gesicht der Frau wirkte noch jung.
»Was getan?«, fragte Johnny.
Der Mann deutete mit zitterndem Finger auf die Gestalt, die neben ihm lag.
»Madeleine! Ich war es nicht! Sie war einfach … sie war … sie ist … sie ist …«
Er zitterte noch stärker, und plötzlich wurde sein Körper von Weinattacken geschüttelt.
»Madeleine! Madeleine!«, rief er.
Er hat ihr das Kissen aufs Gesicht gelegt, dachte Gerda Hoffner. Warum hat er das getan? Wieder zeigte der Mann auf die Frau. Oder das Kissen. Vielleicht wusste er, was Gerda Hoffner dachte. Vermutlich war er noch nicht einmal dreißig. Aus den achtziger Jahren oder wie sie aus den späten Siebzigern. Seine langen Haare fielen ihm in Strähnen ins Gesicht. Normalerweise trägt er es zurückgekämmt, dachte sie. So ein Typ ist er. Ein Totschlägertyp. Er hat es nicht geplant, oder vielleicht doch? Es geht um Macht. Diese Affäre hat vielleicht in einer Kneipe angefangen, vor einem Jahr oder zwei, oder im vergangenen Herbst. Mit Drinks, die er ihr spendiert hat. Immerhin kennt er ihren Namen.
»Das Kissen … es lag auf ihrem Kopf, als ich wach wurde.« Jetzt starrte der Mann Johnny an. Ein Mann, ein anderer Mann. Er würde ihn verstehen.
»Ich bin aufgewacht, und da lag sie dort! Mit dem Kissen auf dem Gesicht!«
»Klar«, sagte Johnny.
»Das ist wahr! Ich schwöre es!«
Der Mann stand auf, nein, er warf sich förmlich aus dem Bett. Er war nackt. Ihm war überhaupt nicht bewusst, dass er nackt vor zwei Fremden stand, es war ihm egal. Er war erregt, verwirrt, selbstverständlich war er das. In den Augen der Fremden war er schuldig, das spürte er. Ihre Uniformen waren Uniformen des Feindes.
»Haben Sie keine Unterhose?«, fragte Johnny.
»Was?« Der Mann hatte einen Schritt auf sie zu gemacht, jetzt blieb er stehen und sah an sich hinunter, auf sein Geschlecht, seine Nacktheit. »Äh … ja … klar.«
Er bückte sich und hob Boxershorts vom Boden auf, zog sie an.
Dann beugte er sich über das Bett und nahm das Kissen vom Gesicht der Gestalt.
»Lassen Sie das!«, rief Gerda Hoffner.
Der Mann schaute sie an, das Kissen in den Händen.
»Ich habe es vorhin schon einmal angefasst.« Seine Stimme klang plötzlich ruhiger. »Als ich aufgewacht bin. Als ich … bevor ich die Polizei angerufen habe. Sie lag da mit dem Kissen auf dem Gesicht, und ich habe es weggenommen. Es … es ist nicht gut, ein Kissen auf dem Gesicht zu haben. Man kann … man kann …« Er verstummte, und sein Körper bebte, als wäre er von einem schweren Schlag getroffen worden.
Er ließ das Kissen los. Lautlos fiel es auf das Bett. Nun sah Gerda Hoffner das ganze tote Gesicht. Sie hätte gern darauf verzichtet. Schließlich sah sie den bösen jähen Tod. Für sie: der erste Tod. Aber er war nicht jäh gekommen. Er sah nicht einmal böse aus. Das Gesicht war ruhig, still, friedlich, keine Aufregung, keine Verwirrung. Es war das Gesicht einer Frau. Madeleine. Es gab keinen Anlass zu glauben, dass sie nicht Madeleine hieß. Madeleine geheißen hatte. Aber ihren Namen hatte sie immer noch, den würde sie mit ins Grab nehmen und auch weiter behalten. Um die dreißig, gerade am Anfang des Lebens. Mein Alter, dachte Gerda Hoffner. Vielleicht sind wir gleich alt. Auch der Mann betrachtete das Gesicht, auch er plötzlich ganz ruhig. Hatte er sich mit dem abgefunden, was er getan hatte? Schon? Er schaute auf.
»Haben Sie Wiederbelebungsversuche unternommen?«, fragte Gerda Hoffner.
»Ich war es nicht«, sagte er. »Ich habe es nicht getan.«
Warum sagte er das? Was wusste er von dem, was in dieser Nacht passiert war? Warum sprach er davon, als wäre es Mord, keine Krankheit? Gerda Hoffner musterte
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