Der letzte Winter
Heiligen Abend empfunden hatte. Es war der unschuldigste Tag des Jahres, und nun war es fast wieder so weit.
Hinter sich hörte er ein Geräusch und drehte sich um. Ein Mann stand im Zimmer. Winter hatte ihn nicht gehört. Seine Frau war oben geblieben. Winter hatte nicht vor, mit ihr zu sprechen, nicht im Augenblick. Der Mann sah wie ein Fremder aus. Winter bekam unmittelbar das Gefühl, er selber lebte in diesem Zimmer, und der Mann sei nur ein zufälliger Besucher. Holst sah sich mit dem Blick eines Fremden um. Er war mittelgroß, trug eine graue Hose, ein helles Hemd und einen grauen Cardigan. Graumeliertes dichtes Haar, Hornbrille. Ende fünfzig oder Anfang sechzig, sein genaues Alter war Winter entfallen. Heute Abend wirkte er zehn Jahre älter. Er sah sich wieder um, als wäre er unsicher, ob er sich setzen sollte, und wenn ja, wohin, oder ob er mitten im Zimmer stehen bleiben sollte.
»Wollen wir uns setzen?«, fragte Winter.
»Äh … natürlich.« Holsts Stimme klang sehr dünn, zerbrechlich. Winter verstand die Worte kaum.
Holst ließ sich in den nächsten Sessel sinken, dunkles Leder, genau wie die anderen drei, die um einen niedrigen Tisch aus geöltem Holz gruppiert waren.
Winter fand im Gesicht des Vaters nichts von Madeleine Holst. In der Chalmersgatan hatte es Fotos von Madeleine gegeben, der lebenden Madeleine, zusammen mit Martin, allein, zusammen mit Mama und Papa, zusammen mit Mama, zusammen mit Papa und mit Personen, von denen sie bis jetzt einige identifiziert hatten und einige nicht. Die alten verdammten Fotografien, die das Leben illustrierten – wenn der Tod es ausgelöscht hatte. Das abgebrochene Leben. Das kurze Leben. Die Trauer in Peder Holsts Gesicht war deutlich, sie lastete schwer wie ein Stein auf seinen Zügen, und wahrscheinlich konnte Winter aus diesem Grund keine Ähnlichkeiten mit der lebenden Tochter entdecken. Holst sah eher tot als lebendig aus, als wäre sein Gesicht zu einer Maske erstarrt. Jetzt wandte es sich Winter zu.
»Was wollen Sie?«
Das war eine direkte Frage. Aber Holst sah aus, als würde er mit sich selber sprechen.
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Warum jetzt? Warum ausgerechnet heute?«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Winter.
»Jetzt, wo Madeleine tot ist, meinen Sie? Nein, das spielt keine Rolle.«
»Es dauert nicht lange«, sagte Winter.
»Haben Sie kein Privatleben?«
Wieder die direkte Frage, und wieder wirkte es so, als stellte Holst sie sich selber: Hast du kein eigenes Leben?
»Wir versuchen Antworten zu finden«, sagte Winter. »Deswegen bin ich heute gekommen. Damit konnte ich nicht warten.«
»Sind Sie so einer?«, sagte Holst lauter. Er bewegte sich in dem Sessel, der ein Geräusch von sich gab, das ebenfalls laut klang in der Stille des Zimmers.
»Wie meinen Sie das?«
»Einer, der nie loslässt? Einer, der nie loslassen kann … der niemals aufgibt?«
»Vielleicht bin ich so einer«, antwortete Winter. »Manchmal jedenfalls.«
»Wie jetzt«, sagte Holst. »Diesmal.«
»Ist das nicht in Ordnung? Diesmal?«
Holst antwortete nicht. Einen Augenblick verbarg er sein Gesicht in den Händen. Dann hob er den Kopf und sah Winter an.
»Ich war selbst einmal so«, sagte er. »Aber das ist vorbei.«
Winter dachte an die Tochter, doch etwas in Holsts Stimme verriet, dass er von etwas anderem sprach. Einer anderen Zeit.
»Wann war das?«, fragte Winter.
»Ist doch egal.«
»Warum?«
Holst antwortete nicht. Er stand auf, ging rasch zu einem der Fenster, blieb dort stehen.
»Wer hat es getan?«, fragte er nach einer Weile, ohne sich umzudrehen. »Wer hat mein kleines Mädchen umgebracht?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Winter. »Was glauben Sie selber?«
Holst drehte sich um.
»Jemand, den sie nicht kannte«, sagte er. »Und das macht alles vielleicht noch schlimmer.«
»Inwiefern?«
»Jemand hat beschlossen, meine … meine kleine Madeleine umzubringen. Es hätte wer weiß wen treffen können. In dem Moment wurde sie irgendeine beliebige Person.«
Winter schwieg.
»Meine kleine Madeleine. Plötzlich ist sie nur irgendjemand.«
»Nein«, sagte Winter. »Dahinter steckt mehr.«
»Was denn? Sagen Sie es mir!«
Holst hatte sich verändert. Jetzt wirkte er lebendig. Als hätte er etwas entdeckt, woran er glauben konnte. Als wäre seine Tochter nicht zufällig gestorben, kein beliebiges Opfer.
»Erzählen Sie es mir«, sagte Winter. »Was glauben Sie selber, was dahinterstecken könnte? Zwei junge Frauen
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