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Der letzte Winter

Titel: Der letzte Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Åke Edwardson
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illuminierten Tannen flankiert. Das ganze Grundstück schien von einer Mauer umgeben zu sein. Es war ein klarer, kalter Abend. Die Sterne über ihm waren hier draußen größer als in der Stadt. Alles war hier größer.
    Er blieb neben seinem Mercedes stehen. Wenigstens ein Auto von außerhalb, das hierher passte. Er passte hierher. Seine Herkunft passte hierher. Er versuchte sie auf Abstand zu halten, aber er war ein Teil all dessen. Das war er sein Leben lang geblieben. Mit einem Silberlöffel im Mund geboren. Polizist war er aus Protest geworden. Oder war es etwas anderes? Kriminalpolizist zu werden hieß, den diskreten Charme der Oberschicht so weit wie irgend möglich hinaus ins Meer zu werfen. Es hieß, zu jeder Stunde und rund um die Uhr bei Fremden einzudringen. Mal waren sie fremder, mal weniger fremd. In dieser großen Stadt gab es Mitbürger, die er nicht verstand, die er nie verstehen würde, und solche, die er sehr gut verstand. Erbe. Herkunft. Codes. Schicht. Darum ging es. Er war Teil jener Schicht, in der er sich im Augenblick befand. Er klopfte an Türen mit goldenen Buchstaben. Seine Herkunft würde ihm helfen zu verstehen, was diese Menschen sagten. Um was es wirklich ging, wenn sie von Liebe sprachen.
    Annica Holst öffnete nach dem dritten Klingeln. Das Haus war zweistöckig. Er hatte Schritte von oben gehört. Er wusste, dass Madeleine das einzige Kind gewesen war.
    »Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte er.
    Aber das spielte in diesem Haus keine Rolle. Der Abend vor Heiligabend war kein Abend des Friedens. Annica Holst sah aus, als hätte sie das Augenlicht verloren, zumindest teilweise. Ihre Augen wirkten verwaschen, ausgeblichen von Trauer. Ihr Blick war irgendwo anders.
    »Wie lange wird es dauern?«, fragte sie.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Winter. »Nicht lange.«
    »Haben Sie Familie?«
    »Ja.«
    »Haben Sie Kinder?«
    »Ja.«
    »Wie viele?«
    Er wollte keine Fragen beantworten, schon gar nicht Fragen dieser Art, nicht jetzt. Aber er hatte natürlich keine Wahl.
    »Zwei.«
    »Jungen oder Mädchen?«
    »Mädchen.«
    »Natürlich«, sagte sie und wandte sich von ihm ab.
    Gerda Hoffner saß an ihrem Küchentisch und versuchte zu analysieren, was sie gefühlt hatte, als sie aus dem Haus in der Chalmersgatan gestürmt war. Angst? Nein, es war mehr gewesen. Entsetzen? Das war kein passendes Gefühl, wenn sie ihren Job behalten wollte. Ein Gefühl, das immer wiederkehren würde. Damit würde sie sich nicht lange als Polizistin behaupten können. Kein Debriefing der Welt würde helfen. Immer ging es um Angst. Mit Angst wurde jeder auf unterschiedliche Weise fertig. Genau das versuchte sie gerade, mit der Angst fertig zu werden, einige Stunden, bevor sie sich mit Johnny Eilig ins Auto setzen und durch die Nacht vor Heiligabend gleiten würde. Vielleicht würde es eine stille Nacht werden.
    Sie stand auf, ging zum Kühlschrank, öffnete ihn und hatte vergessen, was sie hatte holen wollen. Sie schloss die Tür wieder und spürte den Vakuumsog in der Hand. Ein beruhigendes Gefühl. Nach einer halben Minute kehrte sie an den Küchentisch zurück und setzte sich auf den Stuhl. Das ruhige Gefühl war noch da, aber abgeschwächt, es verflüchtigte sich bereits. Verschwinde nicht für immer, dachte sie, ich brauche dich.
    Winter wartete im Wohnzimmer der Familie Holst, wenn Wohnzimmer die richtige Bezeichnung für den großen Raum war, der die gesamte Fläche des Erdgeschosses einzunehmen schien. Er war größer als ein Tennisplatz und trotzdem nicht unproportioniert für das übrige Haus. Ein großes Haus für eine kleine Familie. Er wartete auf Peder Holst. Annica Holst war nach oben gegangen, um ihren Mann zu holen, als müsste er hinunterbegleitet werden. Wie hätte ich selbst reagiert? Winter stand mit dem Rücken zur Treppe und schaute auf den Rasen, der in der sanften Beleuchtung genauso grün wie im Sommer wirkte. Die Kälte an diesem Abend reichte nicht aus, um das Gras mit einer Frostschicht zu überziehen. Vielleicht würde es heute Nacht frieren. Er sah auf die Uhr. In fünf Stunden war offiziell der Tag des Heiligen Abend. Er würde mit größter Wahrscheinlichkeit in seiner Küche stehen und das Weihnachtsbuffet vorbereiten. Es würde nach Gewürzen, Wärme und vielleicht nach Whisky duften. Fast immer schon war es der schönste Abend des Jahres gewesen. Seitdem er selber Kinder hatte, war auch etwas von der kindlichen Erwartung zu ihm zurückgekehrt, die er früher vor dem

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