Der letzte Winter
, meine Dame? Wie wär’s mit der neuesten Ausgabe?«
Ja, warum nicht. Ihren Zwanziger konnte er genauso gut in Alkohol umsetzen wie sie. Das war besser. Sie würde doch lieber keinen Alkohol trinken. Auch wenn sie dienstfrei hatte, konnte sie etwas für die Gesellschaft tun.
»Okay«, sagte sie, »geben Sie mir eine.«
»Besten Dank, meine Dame.«
Dame? Sie war keine Dame. Sah sie aus wie eine Dame? Was war eine Dame? Sie wollte keine »Dame« sein. Hatte er sein Sehvermögen versoffen? Vielleicht war er halb blind von Selbstgebranntem. Er bewegte sich spastisch, seine Nerven hatte er bestimmt versoffen. Sie hatte einmal einen alten Rocker im Fernsehen gesehen, der hatte auch so gezappelt. Vielleicht war dieser Mann ein alter Rocker. Bei deren hartem Lebensstil verbrannten Sehvermögen und Urteilsvermögen.
Aber vielleicht bin ich ja alt, sehe alt aus.
Sie nahm die Zeitung entgegen.
»Danke, danke, zwanzig Kronen. Die kommen mir wie gerufen. Ich will Weihnachtsgeschenke für meinen Sohn kaufen«, sagte der Mann. »Er ist Hockeyspieler. Da braucht er viele Sachen. Fragen Sie mich! Ich hab früher auch mal Hockey gespielt. Man braucht wahnsinnig viel Schutzausrüstung. Und jetzt noch mehr als zu meiner Zeit.«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Spielen Sie auch Hockey?«
»Ich spiele kein Eishockey«, sagte sie. »Aber ich hab mal ein Spiel gesehen.«
»Ein Spiel? Nur eins? Ha, ha, ha. Dann haben Sie noch viel Spaß vor sich.«
»Tschüs«, sagte sie und wollte sich entfernen.
»Tommy Näver ist mein Name«, rief er ihr nach. »Ich stehe immer hier. Das ist mein Platz. Ich bin immer hier. Ich sehe alles. Ich erinnere mich an jeden, der vorbeikommt. Wenn Sie noch ein zweites Mal vorbeikommen, werde ich mich an Sie erinnern.«
»Tschüs«, wiederholte sie und ging weiter. Dann bog sie nach links ab, ging weiter geradeaus und bog wieder nach links ab, ging noch ein Stück und blieb vor einer Haustür stehen. Wie bin ich hierhergeraten? Hierher wollte ich doch wirklich nicht.
Sie schaute an der Hausfront empor. Hier waren sie an jenem frühen Dezembermorgen angekommen, Johnny und sie. Der Dezember hatte gerade angefangen. Es war der Beginn der Schönwetter-Periode gewesen. Vielleicht wird das nächste Jahr schön, hatte sie gedacht. Der Fall würde bald zu den Akten gelegt werden. Sie hatten den Job rasch hinter sich bringen wollen, sie und Eilig, wollten ihn mit Lichtgeschwindigkeit erledigen. »Dort«, hatte Johnny gesagt und auf die Haustür gezeigt, vor der sie nun stand. Sie trat näher und drückte die hübsche Klinke herunter, aber die Tür war natürlich abgeschlossen. Sie erinnerte sich noch an den Code und gab ihn ein. Das war nicht sie, sie wollte das wirklich nicht. Was tue ich hier eigentlich? Warum stehe ich jetzt im Treppenhaus? Hier bin ich schon einmal gewesen. Das sollte reichen. Ich gehe wieder. Ich sollte doch ein Glas Wein in einem Pub trinken, unter Leuten sein, die lachen und reden. Hier ist niemand. Hier gibt es nur den Tod.
Sie stieg die Treppen hinauf. Etwas zog sie nach oben, wie an einem Seil. Oder als würde sie ein kräftiger Rückenwind die Stufen hinaufschieben. Um sie herum leuchtete es wie Gold, aber es war nichts Schönes mehr in all dem. Dies war die Hölle. Jetzt hatte sie den dritten Stock erreicht. Plötzlich erlosch die Treppenhausbeleuchtung. Sie zuckte zusammen. Herr im Himmel. Sie stand vor der Tür, der Tür. Bevor das Licht ausging, hatte sie die Absperrbänder gesehen. Die drei Türen waren noch vorhanden, aber sie wünschte, dass es keine mehr von ihnen gegeben hätte. Dass nichts von all dem geschehen wäre. Ein kindlicher Gedanke. Unter der linken Tür sickerte Licht durch eine Ritze. Dort war jemand zu Hause. Und mit einem Mal konnte sie sich wieder bewegen. Sie drückte auf den Lichtschalter, und es wurde hell. Rasch lief sie die Treppen hinunter. Als sie auf die Straße trat, schlug ihr wunderbar erfrischend die Stadtluft entgegen.
20
D ie erleuchteten Fenster der Häuser im inneren Hovås glommen wie entfernte Feuer in einem Wald. Es war kein einladendes Licht. Es signalisierte: Wir waren nie wie ihr. Ihr werdet nie so sein wie wir. Wenn ihr euer eigenes Licht haben wollt, müsst ihr euch an die Sterne am Himmelszelt halten. Die, die noch übrig sind. Die, die wir haben wollten, haben wir abgeschraubt.
Winter parkte vor dem Haus der Familie Holst. Von der Straße aus wirkte es wie ein kleines Schloss oder wie ein Palast. Die Tür wurde von zwei
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