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Der letzte Wunsch

Der letzte Wunsch

Titel: Der letzte Wunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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mit einer dichten Staubschicht bedeckten Band in den Händen. Das Mädchen stand noch immer vor ihm und knüllte ihre Schürze zwischen den Händen. Sie war älter, als er zunächst angenommen hatte – ihn hatte ihre filigrane Gestalt getäuscht, die sich so von der kräftigen Figur der anderen Dorfmädchen unterschied, die gewiss gleichaltrig mit ihr waren.
    Er legte das Buch auf den Tisch und schlug den schweren Holzdeckel auf.
    »Wirf ein Auge darauf, Rittersporn.«
    »Die Ersten Runen«, urteilte der Barde, während er ihm über die Schulter sah, das Hufeisen noch immer an die Stirn gepresst. »Die älteste Schrift, die bis zur Einführung des modernen Alphabets in Gebrauch war. Noch auf Grundlage der Elfenrunen und der Bilderschrift der Zwerge. Ein merkwürdiger Stil, aber so ist damals gesprochen worden. Interessante Zeichnungen und Illuminationen. So was kriegt man nicht oft zu sehen, Geralt, und wenn schon, dann in Tempelbibliotheken und nicht in Dörfern am Rande der Welt. Bei allen Göttern, wo habt Ihr das her, liebe Landleute? Ihr wollt uns doch nicht etwa sagen, dass Ihr das lesen könnt? Großmutter? Kannst du die Ersten Runen lesen? Kannst du überhaupt Runen lesen?«
    »Hää?«
    Das blonde Mädchen trat an die Großmutter heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
    »Lesen?« Die Alte öffnete lächelnd den zahnlosen Mund. »Ich? Nein, mein Herzchen! Dieser Kunst bin ich nicht mächtig.«
    »Erklärt mir«, sagte Geralt kühl, an Dhun und Brennessl gewandt, »wie ihr das Buch benutzt, ohne Runen lesen zu können?«
    »Die älteste Frau weiß immer, was im Buche steht«, sagte Dhun finster. »Und was sie weiß, bringt sie einer jungen bei, wenn allmählich ihre Zeit kommt. Ihr seht selbst, dass es für unsere Großmutter schon so weit ist. Die Großmutter hat sich jetzt Lille genommen und lehrt sie. Aber vorläufig weiß die Großmutter es am besten.«
    »Die alte Hexe und die junge«, murmelte Rittersporn. »Wenn ich recht verstehe«, sagte Geralt ungläubig, »kennt die Großmutter das ganze Buch auswendig? Ist es so? Großmutter?«
    »Nicht das ganze, wie denn«, gab die Alte zur Antwort, wieder mit der Vermittlung Lilles, »nur das, was unter den Bildern steht.«
    »Aha.« Geralt blätterte aufs Geratewohl um. Das Bild auf der abgegriffenen Seite stellte ein geflecktes Schwein mit Hörnern in Form einer Lyra dar. »Also zeigt, was Ihr könnt, Großmutter. Was steht hier geschrieben?«
    Die Großmutter begann zu schniefen, betrachtete die Zeichnung, dann schloss sie die Augen. »Der gehörnte Auerochs oder Taurus«, rezitierte sie. »Von manchen im Irrtum Wisent genannt. Hat Hörner und stößt damit . . .«
    »Das reicht. Sehr gut, wirklich.« Der Hexer blätterte ein paar aneinanderklebende Seiten um. »Und hier?«
    »Sind allerlei Wolkler und Flammler. Die einen lassen regnen, die anderen säen Wind, die Dritten schleudern Blitze. Willst du die Ernte vor ihnen bewahren, so nimm ein eisernes Messer, ein neues, vom Mäusedreck drei Lot, vom Graureiherschmalz . . .«
    »Gut, bravo. Hmm ... Und hier? Was ist das?«
    Die Zeichnung zeigte ein Scheusal mit wirrem Haar zu Pferde, mit riesigen Augen und noch größeren Zähnen. In der rechten Hand hielt das Scheusal ein ansehnliches Schwert, in der linken einen Geldbeutel.
    »Der Hexling«, schniefte die Großmutter. »Von manchen Hexer genannt. Ist sehr gefährlich, ihn zu rufen, doch wohl nötig, denn so gegen Ungeheuer und Ungeziefer nichts hilft, so hilft der Hexling. Hab jedoch acht . . .«
    »Das genügt«, murmelte Geralt. »Es genügt, Großmutter. Danke.«
    »Nein, nein«, widersprach Rittersporn mit boshaftem Lächeln. »Wie geht es weiter? Ein sehr interessantes Buch! Sprecht, Großmutter, sprecht!«
    »Äh ... Hab jedoch acht, dass du den Hexling nicht anrührest, denn magst davon die Krätze kriegen. Und die Mägde sollst du vor ihm verbergen, denn der Hexling ist lüstern über jegliches Maß . . .«
    »Stimmt aufs Wort.« Der Dichter grinste, Lille aber, wie dem Hexer schien, lächelte kaum merklich.
    ». .. so auch der Hexling sehr gierig ist und nach dem Golde trachtet«, sprach die Großmutter vor sich hin und blinzelte dabei, »sollst du ihm nicht mehr geben als: für einen Nix einen Silbergroschen oder anderthalb. Für einen Werkater: zwei Silbergroschen. Für einen Vampyr: vier Silbergroschen . . .«
    »Das waren Zeiten«, murmelte der Hexer. »Danke, Großmutter. Und jetzt zeigt uns, wo hier vom Teufel die Rede ist und was das Buch

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