Der Leuchtturm von Alexandria
angeht.«
»Das habe ich auch nicht behauptet. Ich möchte aus rein persönlichen Gründen wissen, was wirklich passiert ist. Ich gehe den Dingen nun einmal gerne auf den Grund. Ich möchte verstehen, was um mich herum vorgeht.«
»Oh, bei Artemis der Großen! Etwas zu verstehen ist ja ganz schön, aber du sprichst davon, jemandem seine Geheimnisse zu entreißen. Es könnte Menschen verletzen, auf diese Weise bloßgestellt zu werden, hast du daran nicht gedacht? In einem Fall wie diesem ist Neugier ungehörig.«
»Ich wollte niemanden verletzen; ich wollte nur die ganze Wahrheit kennenlernen. Wenn du etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun hast, brauchst du keine Angst davor zu haben, daß ich darüber einen Bericht an Festinus anfertige. Es ist ganz einfach… wie ein Jucken in meinem Ohr: Ich versuche dauernd, mich zu kratzen, und kann nicht an die Stelle gelangen, wo es juckt. Du hast Angst, es könne dir weh tun, nicht wahr? Und wenn ich dir nun verspreche, niemandem etwas davon zu erzählen? Nein? Nun, vielleicht erzählt Theodoros mir mehr darüber. Ich werde ihn fragen, wenn ich das nächste Mal in Tomis bin.« Er seufzte und fügte hinzu:
»Was vorerst leider nicht der Fall sein wird.«
Ich hoffte, es würde genug Zeit bis dahin vergehen, so daß er das Ganze vergaß. Aber ich sagte nichts.
An der ersten Poststation wechselte Athanaric sein Pferd und galoppierte in nördlicher Richtung davon. Ich sah ihm nach, wie er davon ritt, der sommerliche Staub wirbelte von den Hufen seines Pferdes, sein kurzer Umhang flatterte über seiner rechten Schulter, seine kräftigen Hände hielten die Zügel, die Augen waren aufmerksam auf die Straße gerichtet, seine Haare wehten im Wind. Mir fiel noch ein Liebesgedicht ein: »Ohne daß du es weißt, treibst du meine Seele voran.« Aber er konnte mir gefährlich werden. Es war nicht gut, mir zu wünschen, er möge mein Geheimnis entdecken. Es war nicht gut, im Zusammenhang mit ihm überhaupt etwas zu wünschen. Ich mußte in Tomis Station machen, bevor ich nach Novidunum zurückkehrte, um Thorion über den Fehlschlag meiner Mission zu berichten und um nach Melissa und meinem Neffen zu sehen. Ich würde den Besuch außerdem dazu benutzen, Thorion zu bitten, er solle mit seinen Bemerkungen Athanaric gegenüber äußerst vorsichtig sein.
11
Es wurde Ende September, bevor ich endlich nach Novidunum zurückkehrte. Thorion und Maia hatten mich gebeten, längere Zeit in Tomis zu bleiben, und ich war damit einverstanden gewesen, so lange zu bleiben, bis Melissa und das Baby ganz eindeutig außer Gefahr waren. Nicht, daß sie jemals wirklich in Gefahr gewesen wären. Melissa war eine kräftige junge Frau, und das Baby schlug nach seinem Vater, es hatte eine Konstitution wie aus Eisen.
Obwohl ich nur eine knappe Woche von Tomis fort gewesen war, hatte Thorion bereits eine große Menge zusätzlichen Getreides beschafft. Er hatte seinen Plan verwirklicht, einigen Landbesitzern im Süden der Provinz, die früher ihre Steuern in bar gezahlt hatten, zu gestatten, sie in Naturalien zu bezahlen. Dies hatte es ihnen erlaubt, ihr überzähliges Getreide loszuwerden und gleichzeitig Geld zu sparen; so war es also eine populäre Maßnahme. Thorion hatte es sogar fertiggebracht, einige von den Landeigentümern dazu zu bewegen, ihn zu bestechen, damit er es ihnen gestatte. Natürlich ist es teuer, Getreide auf dem Landweg zu transportieren. Deshalb hatten die Landbesitzer ursprünglich auch in bar gezahlt, und die Armee hatte einen Teil ihrer Vorräte aus solch entfernten Gegenden wie Ägypten herangeschafft – es ist billiger, Getreide per Schiff von Ägypten nach Tomis und weiter die Donau hinauf zu expedieren, als es auf Lastkarren Hunderte von Meilen über Land zu befördern. Doch Thorion gab sich große Mühe, neue Wege ausfindig zu machen, um das Getreide auf Kanälen und Flüssen zu verschiffen. Er kaufte auf Kosten des Kaisers einige Schiffe (indem er weitere Steuernachlässe gewährte) und war emsig dabei, Getreide, Gold und Popularität anzuhäufen. Nur der Verwalter der kaiserlichen Schatzkammer hatte Grund, verärgert zu sein. Doch Thorion begegnete dieser Verärgerung mit dem Hinweis auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten, Getreide aus Alexandria zu bekommen, und auf die Notwendigkeit, die Versorgung der Armee zu gewährleisten. Er war empört, daß Festinus das Getreide nicht in Empfang nehmen wollte. Aber inzwischen war er von seinem neuen Steuersystem so begeistert,
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