Der Leuchtturm von Alexandria
– und fragte, was er tun sollte.
Thorion sandte ebenfalls Botschaften, einige an den Kaiser und einige an mich. »Komm sofort nach Tomis zurück«, schrieb er.
»Ich schicke dich, Melissa und das Baby nach Konstantinopel. Eine Provinz, die sich im Krieg befindet, ist kein Ort für Frauen.«
»In jeder Provinz und während jeden Krieges gibt es einen Haufen Frauen«, schrieb ich zurück. »Und außerdem bin ich für dieses Hospital verantwortlich: Ich kann meine Patienten nicht einfach im Stich lassen. Mach dir keine Sorgen. Hier in Novidunum bin ich ebenso sicher wie du in Tomis.«
Ich schickte den Brief mit dem offiziellen Kurier. Dann kletterte ich auf die Festungsmauer und sah zu, wie der Mann über die Felder davon ritt. Alles war inzwischen weiß vom ersten Schnee. Der Himmel über dem Delta war grau und schien bersten zu wollen; nur am Horizont leuchtete er und war von jener eigenartigen Helligkeit, die die Luft über dem Meer auszeichnet. Der Kurier bewegte sich über die weiße Fläche des Schnees vorwärts, ritt unter den schweren Wolken hinweg, eine winzige schwarze Ameise, die über eine riesige Staubfläche krabbelt. Sonst rührte sich nichts. Ich blickte zum Delta hinüber, dann schritt ich langsam auf der Festungsmauer entlang. Rauch aus ein paar Häusern in östlicher Richtung; Kühe auf einem Feld; eine Frau, die Holz sammelte. Dann die unermeßlichen braunen Fluten des Flusses, die in der kalten Luft dampften und sich der Helligkeit des weit entfernten, unsichtbaren Meeres entgegenwälzten. Dahinter, am anderen Flußufer, waren die Wälle des verlassenen gotischen Lagers gerade noch zu erkennen, dann weitere Felder und Wälder: Nichts rührte sich, kein Leben. Dort waren keine Goten. Vielleicht drängten dort schon bald andere Barbaren nach Alanen, Hunnen. Ich schloß die Augen und dachte an das Imperium, einen Ring von Städten um das Mittelmeer herum, eine Kette, die sich bis zum Schwarzen Meer erstreckte, den Nil hinauf bis in die Wildnis des Binnenlandes, von dem weit entfernten Britannien bis zur persischen Grenze, vom Rhein und von der Donau bis weit in den Süden hinunter, bis zu den Wüsten Afrikas und den Landstrichen Äthiopiens. Alexandria mit seinem Leuchtturm. Caesares, Tyrus, das kaiserliche Antiochia, Rhodos, Ephesus, meine Heimatstadt, mit ihrem herrlichen Tempel der Göttin Artemis. Das strahlende Konstantinopel. Athen, unser aller Mutter und nach wie vor eine Stadt des Lernens, selbst heute noch inmitten ihres lang anhaltenden Niedergangs. Und die Städte des Westreichs, die ich nur aus Berichten kannte: Rom, Carthago, Massilia und weiter entfernt liegende Hauptstädte im Innern wie Treviri und Mediolanum. Die Völker Britanniens, Galliens, Afrikas, Ägyptens, Syriens, Asiens: ein Durcheinander unterschiedlicher Sprachen, unterschiedlicher Vergangenheiten, Religionen, Rassen. Ein Kaiserreich, zwei Sprachen und beinahe tausend Jahre Zivilisation. Zum erstenmal in meinem Leben versuchte ich – wie ich da auf den Festungswällen von Novidunum stand –, mir ein Leben ohne das römische Imperium vorzustellen, und zum erstenmal verstand ich, warum Athanaric es so liebte.
Ich kletterte von den Mauern herunter und machte mich an meine Arbeit im Hospital. Mir hätte schon vorher klar sein müssen, daß ich auf Gedeih und Verderb eine Kreatur des Kaiserreichs war, von ihm geformt durch meine Erziehung , genährt mit seinem Wissen, geprägt durch seine Ordnung. Doch Ephesus ist eine alte Stadt, man hält ungewöhnliche Dinge für ganz normal und sieht einen Zustand für ganz natürlich an, der in Wirklichkeit ein mühsam erworbenes Privileg darstellt. Es war mir immer als selbstverständlich erschienen, daß nur Soldaten Waffen trugen, daß die Gesetze überall die gleichen waren, daß die Menschen sich – unabhängig von irgendwelchen örtlichen Verwaltungsbeamten – von ihren Berufen ernähren konnten, daß man Waren kaufen konnte aus Orten, die Tausende von Meilen entfernt lagen. Aber all dies hatte seine Wurzeln im Kaiserreich, das das Gefüge der Welt zusammenhält, so wie Atlas angeblich den Himmel hält. Und all das war den Goten fremd. Ich hatte die kaiserlichen Behörden bisweilen wegen ihrer Bestechlichkeit, ihrer Brutalität, ihrer Gier, mit der sie die gesamte Macht der Welt für sich beanspruchten, gehaßt. Doch jetzt, da die kaiserliche Regierung in Thrazien herausgefordert war, fühlte ich mich ganz und gar als Römer. Was ich in dieser Lage tun konnte, um dem Staat
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