Der Leuchtturm von Alexandria
räumte er ein. »Dort würde ich freudigen Herzens sterben, in einem Kloster. In der Wüste ist es so still; das einzige, was sich bewegt, ist das Licht. Dort kann man denken und beten. Hier in der Stadt reden die Leute ununterbrochen, sie schmieden Komplotte und Gegenkomplotte. Aber ich muß abwarten, wie Theophilos zurechtkommt.«
»Er ist sehr tüchtig«, sagte ich zu ihm. Theophilos war in der Tat tüchtiger als der alte Petrus, der nicht mehr als einen Gedanken gleichzeitig fassen konnte.
»Oh, ich weiß, daß er tüchtig ist«, erwiderte Athanasios traurig. »Aber ich muß herausfinden, wie ehrgeizig er ist.«
So blieb der Erzbischof also in der Stadt, und ich kehrte zu Philon zurück. Ich ging nach wie vor jeden Tag zum Palast, um nach meinem berühmten Patienten zu sehen und ihn zu untersuchen, aber ich hatte doch die Hoffnung, daß die Dinge sich jetzt ein wenig normalisieren würden. Aber natürlich hatte sich meine Lage inzwischen grundlegend geändert. Ich war – völlig überraschend – der Arzt, der den Erzbischof von Alexandria geheilt hatte, und ich war in Mode. Ich hatte den Palast noch gar nicht verlassen, da wurde ich bereits zu anderen Fällen gerufen, zu kranken Mönchen und Nonnen, Priestern und Dekanen und zu ein paar wichtigen Laien. Kaum war der Erzbischof wieder auf den Beinen, da wurde ich von zahllosen Patienten belagert: allesamt Christen und einige von sehr vornehmem Stand. Meine Kommilitonen stellten mir so viele Fragen, daß ich aufhörte, in die Taverne zu gehen, um ihnen nicht dauernd Rede und Antwort stehen zu müssen. Ich ging auch nicht mehr zu den Vorlesungen. Dafür hatte ich zuviel zu tun.
»Du solltest besser deine Prüfung ablegen«, sagte Philon eines Nachts zu mir, als ich lange nach Mitternacht nach Hause kam und mir der Kopf vor lauter Patientengeschichten, kirchlichen Problemen und persönlichen Sorgen brummte. »Die Ärzte im Tempel sind sehr verärgert. Sie glauben, daß du sie geringschätzt, weil du dich der Prüfung nicht unterziehen willst, um nicht anerkennen zu müssen, daß sie deine Lehrer waren. Sogar Adamantios ist heute auf mich losgegangen, als ich in der Bibliothek war, um meine Rezeptur zu überprüfen. Er glaubt, du seiest inzwischen eine Art religiöser Fanatiker.«
»Oh, bei der großen Artemis!« entgegnete ich. Philon sah mich etwas verwundert an, doch dann lachte er. Es war ein sehr törichter Fluch für einen christlichen Arzt, aber ein in Ephesus sehr verbreiteter. »Wird der Sturm sich nicht bald gelegt haben?« fragte ich ihn mit einem flehentlichen Unterton in der Stimme. »Ich bin einfach nicht alt genug für all dies; ich weiß gar nicht, was ich da tue.«
»Du wirst deine Patienten weiterhin genauso gut versorgen wie jeder andere Arzt dieser Stadt«, antwortete er. »Und der Sturm wird noch lange anhalten.«
Als ich nach Hause gekommen war, hatte er noch im Vorderraum gesessen. Die übrigen Familienmitglieder schliefen bereits.
Es war eine heiße Herbstnacht; die Straße stank nach Hafen. Nur eine einzige Öllampe war entzündet, diejenige, die in der Ecke über Philons Schreibpult hing. Ich setzte mich an den Eßtisch und starrte auf das abgenutzte Holz. Als ich nach Alexandria gekommen war, hatte ich niemals daran gedacht, wirklich eine medizinische Karriere machen zu können. Natürlich hatte ich beabsichtigt, eines Tages nach Ephesus zurückzukehren. Es hätte mir genügt, einfach die Heilkunst zu studieren und auszuüben. Aber Philon hatte recht. Dieser Sturm würde sich nicht so bald legen. Ich war, wenn auch inoffiziell, der Privatarzt des mächtigsten Mannes der Stadt. Ich wußte immer noch nicht, wie ich Athanasios einschätzen sollte. Sicher, ich bewunderte ihn, und ich fing an, eine Art gereizter Zuneigung für einen derart störrischen Patienten zu empfinden. Im Grunde genommen wünschte ich, er hätte mein Geheimnis nicht entdeckt und Theophilos hätte sich nicht an mich erinnert. Ich arbeitete gern mit Philon und fühlte mich wohl in seinem Haus; ich mochte seine Großzügigkeit gegenüber seinen Patienten. Außerdem mochte ich eine Reihe unserer Patienten; die Juden in Alexandria waren freundlicher und weniger reizbar als ihre ägyptischen Nachbarn. Ich fand, daß man leichter mit ihnen zurechtkommen konnte als mit Athanasios’ Mönchen.
Aber ich wurde unerbittlich von Philons Praxis fortgezerrt und zum Erzbischof hingezogen. Und daß ich gezerrt wurde, gefiel mir nicht. Wenn ich darüber nachdachte, dann war ich
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