Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Leuchtturm von Alexandria

Der Leuchtturm von Alexandria

Titel: Der Leuchtturm von Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Bradshaw
Vom Netzwerk:
wahrscheinlich ebensogut oder vielleicht sogar besser als manche der Ärzte im Tempel – Philon war ein guter Lehrherr gewesen. Aber ich empfand mich immer noch als unwissend und hilflos, und wenn ich über die Kirche nachdachte, dann wurde es nur noch schlimmer. Athanasios hatte sein ganzes Leben lang die Kaiser herausgefordert, und der gegenwärtige, unsichere Friede in der Stadt würde nicht länger währen als sein Leben. Ich hatte Angst.
    Angst auch vor Entdeckung, das mußte ich mir eingestehen. Wenn es schon einen Skandal gegeben hatte, als ich aus Ephesus fortrannte, würde der Skandal noch viel größer sein, falls man jetzt mein Geheimnis entdeckte. Und falls ich wirklich berühmt werden sollte, könnte einmal jemand zu Ischyras sagen; »Dein junger Vetter hat sich in Alexandria aber sehr gut gemacht«, und er würde fragen: »Was für ein Vetter denn?« Und der Betreffende würde antworten: »Wieso, der Eunuch Chariton natürlich« – und dann würden die Leute gar nicht mehr anders können, als zwei und zwei zusammenzuzählen.
    Auf der anderen Seite hatte ich vorläufig nicht die Absicht, nach Ephesus zurückzukehren. Es war jedoch ganz offensichtlich nicht möglich, sich der allgemeinen Aufmerksamkeit zu entziehen und noch länger einfach so als Philons Assistent weiterzumachen. Ich mußte Athanasios meine Visiten abstatten und konnte die neuen Patienten nicht abweisen. Eine Karriere aus eigener Kraft war unvermeidlich.
    »Nun schön«, meinte ich niedergeschlagen, »dann werde ich mich der Prüfung also unterziehen.«
    Es war wirklich nicht gerade eine Feuerprobe. Anläßlich dieser feierlichen Gelegenheit kaufte ich mir einen neuen Umhang und eine neue Tunika; die alten, die Thorion mir auf dem Markt in Ephesus gebraucht gekauft hatte, waren inzwischen ganz fleckig und schäbig. Theophila webte mir einen Saum für den Umhang; er hatte ein rotgrünes Muster aus Vögeln und Bäumen, und als sie ihn mir an den Umhang genäht und ich mir die Haare hatte schneiden lassen, stimmten alle darin überein, ich sähe aus wie ein richtiger Mann von vornehmer Geburt.
    Die ganze Familie kam mit zum Tempel, um bei der Prüfung dabeizusein. Sie wurde in einem der Nebengebäude abgehalten, und zwar in einem der größeren Nebengebäude, da ein Haufen Leute zuschauen wollte: die meisten meiner Kommilitonen und viele frühere Patienten. Philons jüdische Patienten und die große Schar der Mönche und Kirchenbeamten beäugten einander mit gegenseitigem Mißtrauen. An einem Tisch in der Mitte des Raumes saßen sechs Angehörige der Prüfungskommission des Museums in ihren besten Gewändern – vier Ärzte und zwei weitere Gelehrte – und trugen eine offizielle Miene zur Schau. Aber unter der nach außen gekehrten Strenge konnte ich ein gewisses Wohlwollen wahrnehmen, und schon fühlte ich mich weniger nervös. Die meisten der sechs Sachverständigen freuten sich mit mir über meinen Ruhm. Sie sahen es gar nicht gerne, wenn Ärzte, die woanders und nach anderen Methoden ausgebildet worden waren, wichtige Patienten für sich gewinnen konnten. Und daß ich nun in meinem neuen Umhang vor ihnen stand, voller Respekt und bereit, ihre Fragen zu beantworten, bedeutete eine Bestätigung für das Museum. Der Arzt des Bischofs war kein ägyptischer Asket, kein frommer Mönch aus der Wüste, sondern ein Anhänger des Hippokrates, der am Tempel ausgebildet worden war. Die neue Religion mußte doch manche Felder noch den alten Wissenschaften überlassen.
    Ich nahm meinen Platz gegenüber dem Prüfungsausschuß ein, und nach dem üblichen Scharren und Rascheln der Zuhörerschaft und dem Hüsteln der Kommission begann die Prüfung.
    Die Fragen waren – genau wie Philon gesagt hatte – so formuliert, daß die Antworten eindeutig und zur Zufriedenheit aller ausfallen mußten. Sie bezogen sich sowieso nur auf die gängigen medizinischen Schriftsteller und Kräuterbücher. Beschreibe den Aufbau des Herzens. Wie würdest du eine Schulterverrenkung behandeln? Wie bereitest du das Zeitlosengewächs zu, und wofür braucht man es? Nur einer der Prüfer wollte Ärger machen. Er war einer der beiden Gelehrten des Ausschusses, ein Philosoph, Astrologe und überzeugter Heide, und er wollte unbedingt demonstrieren, daß christliche Ärzte den alten heidnischen unterlegen waren. Er war als letzter an der Reihe, mich zu befragen. Nachdem er mich mit einem heimtückischen Lächeln bedacht hatte, fragte er: »Welche Wirkung haben die Sterne auf die

Weitere Kostenlose Bücher