Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
viel kann ein Mensch ertragen, bis er völlig zerbricht? Ich habe Angst, dass das bei Anna passiert ist.« Die Worte blieben ihr fast im Hals stecken.
»Uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten. Und für sie da zu sein.« Patrik hörte selbst, wie hohl seine Worte klangen. Aber ihm fiel nichts Besseres ein. Wie schützte man sich vor dem Schicksal? Wie überlebte man den Verlust eines Kindes?
Doppeltes Geschrei aus dem Obergeschoss ließ die beiden zusammenzucken. Gemeinsam gingen sie hinauf, um sich je einen Zwilling zu holen. Das war ihr Schicksal. Sie empfanden schuldbewusste Dankbarkeit.
D as war Mattes Arbeitsstelle. Er war gestern nicht da und ist heute auch nicht gekommen, aber sie haben keine Krankschreibung erhalten.« Mit dem Hörer in der Hand stand Gunnar stocksteif da.
»Er ist ja auch das ganze Wochenende nicht ans Telefon gegangen«, sagte Signe.
»Ich fahre jetzt hin und sehe nach dem Rechten.«
Gunnar war bereits auf dem Weg zur Tür. Die Jacke zog er sich im Gehen an. Das also empfand Signe die ganze Zeit. Die Angst raste wie ein wildes Tier in seiner Brust. Genau das hatte sie all die Jahre empfunden.
»Ich komme mit.« Signes Stimme klang entschlossen, und Gunnar wusste, dass es sinnlos gewesen wäre, ihr zu widersprechen. Er nickte kurz und wartete ungeduldig, bis sie in ihren Mantel geschlüpft war.
Sie schwiegen auf der Fahrt zu dem Mietshaus. Er fuhr nicht durch den Ort, sondern hinten herum an einem Hügel entlang, wo die Kinder im Winter rodelten. Auch Matte war dort als Kind hinuntergesaust. Gunnar musste schlucken. Es gab sicher eine plausible Erklärung. Vielleicht hatte Matte hohes Fieber und war nicht auf den Gedanken gekommen, sich krankzumelden. Oder er … Weitere Gründe fielen ihm nicht ein. Matte war in solchen Dingen immer gewissenhaft. Er hätte angerufen, wenn er nicht zur Arbeit hätte kommen können.
Signe saß bleich neben ihm auf dem Beifahrersitz und starrte vor sich hin. Krampfhaft hielt sie ihre Handtasche umklammert. Gunnar fragte sich, was sie wohl damit wollte, hatte aber das Gefühl, dass die Tasche ihr als Rettungsring diente, etwas, woran sie sich festhalten konnte.
Sie stellten den Wagen vor Mattes Haus ab. Gunnar wollte losrennen, gab sich jedoch Signe zuliebe Mühe, ruhig zu erscheinen, und zwang sich, in normalem Tempo zu gehen.
»Hast du die Schlüssel?« Signe war vorausgelaufen und hatte bereits die Haustür aufgerissen.
»Hier.« Gunnar hielt ihr den Bund mit den Zweitschlüsseln hin, die Matte ihnen gegeben hatte.
»Aber er ist bestimmt zu Hause und dann brauchen wir sie ja nicht. Er wird uns mit Sicherheit selbst die Tür aufmachen und dann …«
Er hörte, wie Signe zusammenhangslos vor sich hin brabbelte, als sie die Treppe hinaufhastete. Als sie oben ankamen, waren beide außer Atem. Er musste sich beherrschen, um den Schlüssel nicht sofort ins Schloss zu stecken und die Tür zu öffnen.
»Zuerst klingeln wir. Falls Matte zu Hause ist, könnte er fuchsteufelswild werden, wenn wir einfach so reingehen. Vielleicht hat er ja Gesellschaft und ist deshalb nicht zur Arbeit erschienen.«
Signe hatte bereits auf den Klingelknopf gedrückt. Sie hörten den Ton in der Wohnung. Sie klingelte noch einmal und wieder und immer wieder. Sie warteten auf Schritte hinter der Tür, die Schritte von Matte, der kam, um ihnen aufzumachen. Aber es blieb still.
»Sei so gut und mach jetzt auf.« Signe starrte ihn erwartungsvoll an.
Er nickte, drängte sie zur Seite und fummelte mit dem Schlüsselbund herum. Er drehte den Schlüssel im Schloss und rüttelte an der Klinke. Abgeschlossen. Verwirrt begriff er, dass er die Tür soeben zugesperrt hatte. Sie war offen gewesen. Er sah Signe an. Beide konnten das Entsetzen in den Augen des anderen erkennen. Warum sollte die Tür offen sein, wenn er nicht zu Hause war? Und falls er doch zu Hause war: Warum machte er die Tür dann nicht auf?
Gunnar drehte den Schlüssel erneut um und hörte das Schloss klicken. Mit Händen, die nun unkontrolliert zitterten, drückte er die Klinke hinunter.
Kaum hatte er einen Blick in den Flur geworfen, begriff er, dass Signe immer recht gehabt hatte.
Sie war krank. So krank wie noch nie in ihrem Leben. Der Geruch von Erbrochenem drang ihr in die Nasenlöcher. Sie erinnerte sich nicht daran, glaubte aber, sich in einen Eimer neben der Matratze übergeben zu haben. Alles war wie im Nebel. Vorsichtig bewegte sich Annie. Alles tat ihr weh. Sie blinzelte und hatte sogar
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