Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
bisschen Licht in die Dunkelheit gebracht, in der sie sich nun schon so lange befand.
Annie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. Sie konnte sich nicht erlauben, sich der Sehnsucht und dem Schmerz hinzugeben. Sie klammerte sich bereits krampfhaft ans Leben und durfte nicht loslassen. Matte hatte sie verlassen, aber Sam war noch da. Und sie musste ihn beschützen. Nichts, nicht einmal Matte, war wichtiger als das. Sam zu beschützen war ihre größte und einzige Aufgabe im Leben. Da nun andere Menschen auf dem Weg hierher waren, musste sie sich darauf konzentrieren.
Es hatte sich etwas verändert. Nie ließ man sie in Ruhe. Ständig spürte Anna einen Körper an ihrer Seite, jemanden, der neben ihr atmete und ihr Wärme und Energie spendete. Sie wollte nicht berührt werden, sondern einfach in dem einsamen, aber sicheren Schattenland verschwinden, in dem sie sich nun schon lange befand. Alles andere war zu schmerzhaft. Ihr Körper und ihre Seele hatten so viele Schläge abbekommen, dass sie zu empfindlich geworden waren. Mehr konnte sie nicht aushalten.
Außerdem wurde sie nicht gebraucht. Sie brachte nur Unglück über die Menschen in ihrer Nähe. Emma und Adrian hatten Dinge miterlebt, die allen Kindern erspart bleiben sollten, und die Trauer über den verlorenen Sohn, die sie in Dans Augen sah, war unerträglich.
Am Anfang schien man sie zu verstehen. Sie hatten sie einfach hier liegen lassen und hatten sie nicht gestört. Manchmal versuchte jemand, mit ihr zu reden, aber alle gaben es schnell auf und ihr wurde klar, dass die anderen es genauso sahen wie sie. Sie hatte den Unfall verschuldet, und es war für alle das Beste, wenn sie blieb, wo sie war.
Nach Ericas letztem Besuch hatte sich jedoch etwas verändert. Anna hatte den Körper ihrer Schwester ganz nah an ihrem wahrgenommen, hatte gespürt, wie die Wärme sie den Schatten entriss, immer näher an die Wirklichkeit zerrte und sie zur Umkehr bewegen wollte. Erica selbst sagte nicht viel. Ihr Körper sprach zu ihr und wärmte ihre Gliedmaßen, die steif und verfroren waren, obwohl sie unter einer dicken Decke lagen. Sie versuchte, Widerstand zu leisten, konzentrierte sich auf einen dunklen Fleck in ihrem Innern, einen Punkt, den fremde Körperwärme nicht erreichte.
Als die Wärme von Ericas Körper verschwunden war, kam eine andere. Dans Körper zu widerstehen war am einfachsten. In der Energie, die von ihm ausging, schwang so viel Trauer mit, dass ihre eigene davon noch intensiviert wurde. Da bereitete es ihr keine Anstrengung, im Schattenreich zu bleiben. Mit der Energie der Kinder hatte sie die größten Schwierigkeiten. Emmas kleiner weicher Körper, der sich an ihren Rücken schmiegte, der Arm, den sie – so weit es ging – um ihre Taille legte. Anna musste ihre ganze Kraft aufwenden, um sich dagegen zu wehren. Und dann Adrian, noch kleiner und verstörter als Emma, aber mit einer noch stärkeren Energie. Sie brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, wer sich neben sie legte. Auch wenn sie immer noch regungslos auf der Seite lag und den Himmel vor dem Fenster anstarrte, spürte sie, von wem die Wärme kam.
Sie wollte in Frieden gelassen werden und in Ruhe hier liegen. Der Gedanke, dass sie vielleicht nicht genug Kraft hatte, um dagegen anzugehen, machte ihr Angst.
Nun war Emma da. Ihr Körper bewegte sich leicht. Sie war vermutlich eingeschlafen, denn sogar im Schattenland war Anna aufgefallen, dass sie nun tiefer atmete. Jetzt veränderte sie ihre Stellung und drückte sich noch ein bisschen fester an sie, wie ein Tier, das Trost suchte. Anna spürte, wie sie wieder von den Schatten fortgerissen und von der Energie angezogen wurde, die in jeden Winkel ihres Körpers drang. Der Fleck, sie musste sich auf den dunklen Fleck konzentrieren.
Die Schlafzimmertür ging sachte auf. Anna spürte, wie das Bett schaukelte, als noch jemand hinaufkletterte und sich an ihren Füßen zusammenrollte. Dünne Ärmchen klammerten sich so fest an ihre Beine, als wollten sie die Mutter nie wieder hergeben. Auch Adrians Wärme ging auf sie über, und es fiel ihr immer schwerer, zwischen den Schatten zu bleiben. Einzeln konnte sie die beiden abwehren, aber nicht zu zweit, nicht, wenn sich ihre Energien verbanden und noch stärker wurden. Allmählich spürte sie, wie sie losließ. Wie sie wieder ankam, bei dem, was hier im Raum und in der Wirklichkeit stattfand.
Mit einem tiefen Seufzer drehte sich Anna um. Sie sah das schlafende Gesicht ihrer
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