Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
nach Luft schnappte.
Keiner von ihnen hatte darüber gesprochen. Es war nicht nötig gewesen. Sie hatte Julian zu Karl sagen hören, sein Vater würde nun hoffentlich seinen Willen bekommen. Sie konnte sich leicht ausrechnen, dass alles mit diesem Brief zusammenhing, aber das verringerte weder ihre Scham noch die Demütigung. Ihr Schwiegervater hatte erst eine Drohung aussprechen müssen, damit ihr Mann sich überwand, seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Bestimmt hatte er sich gefragt, warum sie und Karl keine Kinder bekamen.
Am Morgen hatte sie steifgefroren auf dem Boden gelegen. Das schwarze Wollkleid und die weißen Unterröcke waren bis zur Taille hochgeschoben. Hastig hatte sie ihre Blöße bedeckt, aber das Haus war leer. Niemand war da. Mit trockenem Mund und pochenden Kopfschmerzen stand sie auf. Sie fühlte sich wund zwischen den Beinen, und als sie eine Weile später zur Toilette ging, sah sie das getrocknete Blut an der Innenseite ihrer Schenkel.
Als Karl und Julian viele Stunden später aus dem Leuchtturm kamen, wurde das Geschehen mit keiner Silbe erwähnt. Emelie hatte den ganzen Tag darauf verwandt, das Häuschen mit der Scheuerbürste und grüner Seife auf Hochglanz zu bringen. Niemand hatte sie dabei gestört. Die Toten waren erstaunlich still. Zur gewohnten Zeit bereitete sie das Essen vor, so dass es um fünf Uhr auf dem Tisch stand. Mechanisch schälte sie Kartoffeln und briet den Fisch. Nur als Karls und Julians Schritte sich der Haustür näherten, verriet ein leichtes Beben ihrer Hand, was in ihr vor sich ging. Als die beiden hereinkamen, war davon jedoch nichts mehr zu sehen. Sie hängten ihre dicken Jacken an die Garderobe im Hausflur und setzten sich an den Esstisch. So ging der Winter zu Ende. Übrig blieb nur eine vage Erinnerung an das, was passiert war, und die Kälte, die sich als weiße Kruste übers Wasser legte.
Nun hatte das Eis Risse bekommen, und hin und wieder ging Emelie nach draußen, setzte sich auf die Bank an der Hauswand und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie lächelte, denn inzwischen wusste sie es. Am Anfang war sie sich nicht sicher gewesen, weil sie ihren Körper noch nicht so gut kannte, aber schließlich bestand kein Zweifel mehr. Sie war in anderen Umständen. Der Abend, der in ihrer Erinnerung zu einem bösen Traum geworden war, hatte etwas Gutes mit sich gebracht. Sie erwartete etwas Kleines. Ein Kind, um das sie sich kümmern und mit dem sie das Leben auf der Insel teilen konnte.
Sie schloss die Augen und legte sich die Hand auf den Bauch, während die Sonne ihre Wangen wärmte. Irgendjemand setzte sich neben sie, doch als sie die Augen aufschlug, war der Platz an ihrer Seite leer. Lächelnd machte Emelie die Augen wieder zu. Es war ein gutes Gefühl, nicht allein zu sein.
D ie Morgensonne hatte sich gerade am Horizont gezeigt, aber Annie, die vom Steg aus über die Inseln hinweg in Richtung Fjällbacka starrte, sah sie nicht.
Sie wollte keinen Besuch haben. Sie wollte nicht, dass sich jemand in ihr und Sams Leben hier einmischte. Die Insel gehörte ihnen und sonst niemandem. Als die Polizei anrief, hatte sie jedoch nicht nein sagen können. Außerdem hatte sie ein Problem, das sie nicht allein lösen konnte. Sie hatten fast nichts mehr zu essen, und sie hatte sich nicht dazu aufraffen können, sich bei Mattes Eltern zu melden. Da sie nun ohnehin wohl oder übel Besucher empfangen musste, hatte sie diese gebeten, ihr das Nötigste mitzubringen. Es erschien ihr zwar etwas dreist, jemanden darum zu bitten, den sie noch nie gesehen hatte, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sam war noch zu schwach für die Fahrt nach Fjällbacka, und Kühlschrank und Vorratskammer mussten gefüllt werden, damit sie nicht verhungerten. Weiter als bis auf den Steg würden die Besucher sowieso nicht kommen. Die Insel gehörte ihr und Sam.
Der einzige Mensch, den sie gern hier gehabt hätte, war Matte. Sie betrachtete weiterhin das Wasser, während sich ihre Augen allmählich mit Tränen füllten. Noch immer spürte sie die Arme, die sich um sie schlangen, und seine Küsse auf ihrer Haut. Den Geruch, der so vertraut und doch so verändert war, der Duft eines erwachsenen Mannes und nicht eines Jungen. Sie hatte nicht gewusst, was die Zukunft mit sich bringen und was ihr Wiedersehen für ihr Leben bedeuten würde. Doch für einen kurzen Moment hatte ihre Begegnung eine Möglichkeit geboten, ein Fenster geöffnet und ein
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