Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
nicht wusste, warum. Was hatte sie ihm getan? Voller Abscheu sah er sie an. Gleichzeitig entdeckte sie wie bei einem gefangenen Tier manchmal ein Fünkchen Verzweiflung in seinem Blick. Er sah aus wie jemand, der sich nicht aus seiner Lage befreien konnte, genauso wie sie. Aus irgendeinem Grund richtete sich seine Wut darüber gegen sie, als ob sie seine Wächterin wäre. Julian machte die Sache nicht einfacher. Seine düstere Stimmung schien sich auch auf Karl auszuwirken. Seine frühere Gleichgültigkeit, die hin und wieder sogar Ähnlichkeit mit zerstreuter Freundlichkeit gehabt hatte, war restlos verschwunden. Sie, Emelie, war die Feindin.
An die harten Worte gewöhnte sie sich allmählich. Karl und Julian beschwerten sich über alles, was sie tat. Das Essen war entweder zu heiß oder zu kalt. Die Portionen zu groß oder zu klein. Das Haus war nie sauber und ihre Kleidung nie ordentlich genug. Nichts konnte die beiden je zufriedenstellen. Doch gegen Worte war sie gewappnet, weil sie sich einen Panzer zugelegt hatte. Sich mit den Schlägen abzufinden fiel ihr schwerer. Bislang hatte Karl sie nie geschlagen, aber seit sie ihm erzählt hatte, dass sie schwanger war, hatte sich ihr Leben verändert. Sie hatte lernen müssen, mit Ohrfeigen und Prügel zu leben. Er gestattete auch Julian, die Hand gegen sie zu erheben. Sie wunderte sich darüber. Hatten sie denn nicht genau das gewollt?
Ohne das Kind, das sie erwartete, hätte sie sich vermutlich ertränkt. Das Eis war schon lange weg, und der Sommer ging seinem Ende entgegen. Wären die Tritte in ihrem Bauch nicht gewesen, die sie anspornten und ihr Kraft gaben, wäre sie von dem kleinen Strand aus direkt ins Wasser gegangen, durch die gefährlichen Strömungen auf den Horizont zu, bis das Meer sie mit sich gerissen hätte. Doch das Kind schenkte ihr so viel Freude. Bei jedem harten Wort und jedem Schlag konnte sie sich an das kleine Wesen wenden, das in ihr wuchs. Das Kind war ihr Rettungsanker. Die Erinnerung an den Abend, an dem es zustande gekommen war, musste sie in den hintersten Winkel ihres Kopfes verdrängen. Das spielte jetzt keine Rolle. Das Kind bewegte sich in ihrem Bauch und gehörte nur ihr.
Nachdem sie die Dielen mit grüner Seife geschrubbt hatte, richtete sie sich mühsam auf. Sie hatte alle Flickenteppiche zum Lüften nach draußen gehängt. Eigentlich hätte sie sie schon im Frühling gründlich waschen müssen. Den ganzen Winter über hatte sie dafür die feine Asche aus dem Herd gesammelt. Wegen des Wetters und ihrer Müdigkeit musste sie sich jedoch in diesem Frühjahr und Herbst damit begnügen, die Teppiche zu lüften. Das Kind würde im November kommen. Wenn alles gutging, könnte sie vielleicht vor Weihnachten große Wäsche machen.
Emelie streckte den schmerzenden Rücken und öffnete die Tür. Sie ging ums Haus herum und gönnte sich eine kleine Pause. An der einen Hauswand blühte ihr ganzer Stolz: das Beet, das sie in der unwirtlichen Umgebung so mühevoll angelegt und gepflegt hatte. Dill, Petersilie und Schnittlauch wuchsen zwischen Stockrosen und Tränenden Herzen. Inmitten der kargen grauen Landschaft sah der kleine Garten so schön aus, dass es ihr den Hals zuschnürte. Sie allein hatte ihn hier auf der Insel geschaffen. Alles andere gehörte Karl und Julian, die ständig in Bewegung waren. Wenn sie nicht im Leuchtturm arbeiteten oder schliefen, hämmerten, reparierten und sägten sie. Sie lagen nicht auf der faulen Haut, das musste sie zugeben, aber es hatte etwas Manisches, wie erbittert sie gegen Wind und Salzwasser ankämpften, die unbarmherzig zerstörten, was sie gerade fertiggestellt hatten.
»Die Haustür steht offen.« Als Karl um die Ecke kam, zuckte sie erschrocken zusammen und legte sich die Hand auf den Bauch. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du sie zumachen sollst. Ist das so schwer zu verstehen?«
Er wirkte verbissen. Sie wusste, dass er im Leuchtturm die Nachtschicht übernommen hatte, und durch die Müdigkeit wirkten seine Augen noch dunkler. Verängstigt duckte sie sich unter seinem Blick.
»Entschuldige, ich dachte …«
»Du dachtest! Dummes Weib, nicht einmal eine Tür kannst du schließen. Verschwendest deine Zeit, anstatt deine Arbeit zu machen. Julian und ich schuften rund um die Uhr, während du dich mit so etwas beschäftigst.« Er machte einen großen Schritt, und bevor sie eingreifen konnte, hatte er eine Stockrose voller Knospen mit der Wurzel ausgerissen.
»Nein, Karl. Nein!« Sie sah
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