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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
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Pit.
     
    Ansonsten war es leer. Pew hatte einen Schlüssel für das Lokal, und er ging gern samstagabends einen trinken, weil das die Pews, wie er sagte, schon immer so machten. Bevor ich zu ihm zog, schloss er die Tür auf und bediente sich hinterm Tresen aus einem Rumfass, auf dem eine so dicke Staubschicht lag, dass ein abgestelltes Glas wie ein Geisterschiff im Nebel darin versank.
    Jeden Samstagabend bekam ich eine Tüte Kartoffelchips, obwohl mich Miss Pinch gewarnt hatte, dass das Probleme geben könne, wobei sie mir nicht verriet, inwiefern. Offenbar war ich selbst das Problem.
    Früher am Tag waren wir einander begegnet, als ich unsere Sackkarre durch die Schlaglöcher unserer Straße in Richtung Stadt zog. Sie ließ die Hand über mir baumeln wie einer dieser mechanischen Greifarme auf dem Schrottplatz. Sie sagte, sie sei schwer enttäuscht, dass ich nicht zur Schule ginge, und so würde ich keinerlei Fortschritte machen. Ich musste sofort an ein leuchtend blaues Boot denken, das von den Wellen zurückgeworfen wird. Wie konnte man zu gleicher Zeit das Boot und die Wellen sein? Das war eine tiefgründige Frage.
    »Du hörst mir nicht zu«, sagte sie.
    »Doch. Es war Sturm. Wir konnten den Leuchtturm nicht verlassen.«
    »Kapitän Scott hat sich nicht vom Wetter abschrecken lassen«, sagte Miss Pinch. »Trotz Schnee erreichte er den Südpol.«
    »Aber er ist in seinem Zelt gestorben!«
    »Tod, wo ist dein Stachel?«
    Das wusste ich auch nicht.
    »Bitte sehr«, sagte sie. »Das hier habe ich mir aus der mobilen Bücherei ausgeliehen.«
    Es waren Kapitän Scotts Tagebücher.
    Während ich auf Pew wartete, begann ich darin zu lesen.
Ich bereue diese Reise nicht… Wir haben Risiken auf uns genommen … Diese flüchtigen Notizen müssen die Geschichte erzählen
.
    Ich sah mir die Bilder der Leute an, verlassen in ihrem weißen Nirgendwo.
    »Warum mussten sie sterben, Pew?«
    »Sie haben den Mut verloren. Amundsen war ihnen zuvorgekommen, und als sie sich auf den Rückweg machten, hatten sie keinen Kampfgeist mehr. Man darf nie den Mut verlieren.«
    »Nein?«
    »Nein.«
    Der Mond ging auf, voll und klar und polarweiß. Aus der Einleitung zu den Tagebüchern erfuhr ich, dass Scott zum Pol reisen wollte, weil es kaum noch Abenteuer gab. 1913 war die Welt fast vollständig kartografiert. Niemand hätte je gedacht, dass man im Jahr 1969 auf dem Mond landen würde.
    »Siehst du ihn?«, sagte Pew. »Ich spüre ihn, genau wie das Meer ihn spürt. Ich fühle seinen Sog genau wie das Meer ihn fühlt. Daher weiß ich, wann wir Sturm haben werden.«
    Ich musste an Kapitän Scott denken, in seiner verschneiten ozeanischen Ödnis, den weißen Mond im Gesicht, und ich fragte mich, ob er jemals davon geträumt hatte, dort zu sein – an einem ebenso kalten Ort wie diesem, genauso fern, genauso schön, genauso unwahrscheinlich.
    Der Erdanziehung entbunden, brachte er die Hunde mit windgeriffeltem Fell zum Fliegen, ein Schlittenhund-Strahlenkranz durch gut zwei Meilen Schwerkraft, und dann hinaus in die Freiheit, den Mond anzubellen, halb Wolf, halb zahm, und heimwärts ging’s zu dem weißen Planeten, den er in ihren orangenen Augen hatte leuchten sehen, die Pfoten bis zu den Fesseln im Schnee.
     
    Niemand weiß, was am Ende der Reise geschieht. Niemand weiß, wohin die Toten gehen.
    Pew und ich waren hineingegangen, und wie immer saßen wir nebeneinander und starrten wie immer nach vorn. Längst hatte man den Strom abgestellt. Man hätte es für eine Gruft halten können, aber Pew sah das anders.
     
    »Alle Tische waren besetzt«, sagte Pew, »und die Männer standen in dritter Reihe am Tresen.
    An manchen Abenden kam Dark persönlich, und die Männer machten ihm Platz, damit er alleine sitzen konnte, wo wir jetzt sitzen, und die Gespräche versiegten wie Wasser bei Ebbe, obwohl Dark keinen der Männer ansah und mit keinem der Männer sprach.
    Er brachte seine Bibel mit und las immer nur seine eigene Geschichte – nicht, dass du sie kennen würdest mit deinen Bildungslücken –, die Geschichte jedenfalls, die er las, war die Geschichte des ersten Turmbaus zu Babel aus der Genesis.
    Man baute diesen Turm so hoch als sollte er bis zum Mond reichen, denn die Erbauer wollten hinaufsteigen und Gottgleich sein. Als der Turm krachend in sich zusammenfiel, wurden die Menschen in alle Winkel der Erde verstreut, und sie verstanden die Sprachen der anderen genauso wenig, wie sie die Sprachen der Fische und Vögel verstanden.
    Eines

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