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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
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Theaterstück oder einem Buch. Da war eine Geschichte: Die Geschichte von Molly O’Rourke und Babel Dark, Anfang, Mitte und Schluss. Aber eine solche Geschichte gab es nicht, es gab keine erzählbare Geschichte, denn sie bestand aus geflochtenem Haar, einem Apfel, glühender Kohle, einem trommelnden Bären, einem Zifferblatt aus Messing, seinen Schritten auf den steinernen Stufen, die immer näher kamen.
    Dark öffnete die Tür.
    Sie drehte sich nicht um.

Pew schlief, die Augen wie ein fernes Schiff.
    Nachdem ich mit dem Hund rausgegangen war und die erste Kanne Full Strength Samson aufgebrüht hatte, saß ich draußen auf der Plattform des Leuchtturms und begann die Post durchzusehen. Die Post war meine Aufgabe, denn Pew konnte sie ja nicht lesen.
    Es war das Übliche – Kataloge für Messinginstrumente, Sonderangebote für Öljacken, Thermounterwäsche von Wolsey – dieselbe Firma, die Kapitän Scott für seine Polarexpedition im Jahre 1913 ausstattete. Ich machte ein Kreuzchen neben einem braunen Unterhemd und dem passenden Paar langer Unterhosen und öffnete den letzten länglichen Umschlag.
    Er kam aus Glasgow. In einem halben Jahr sollte der Leuchtturm automatisiert werden.
    Nachdem ich Pew den Brief vorgelesen hatte, erhob er sich auf sehr würdevolle Weise und schüttete den Rest Tee ins Meer. Möwen zogen kreischend um die Leuchtturmspitze ihre Bahnen.
    »Seit 1828 gibt’s hier einen Pew.«
    »Sie bezahlen dir eine Menge Geld, wenn du ausziehst. Das nennt man Entlassungsabfindung, und die Umquartierung ist mit inbegriffen.«
    »Ich brauche kein Geld, Kind. Ich brauche das, was ich habe. Schreib ihnen zurück und sag ihnen, dass Pew hier bleibt. Sie können mir den Lohn streichen, aber ich bleibe, wo ich bin.«
    Also schrieb ich einen Brief an die Northern Lighthouse-Behörde, die mir sehr förmlich zurückschrieb, Mr Pew habe an dem betreffenden Tag zu gehen, und es gebe keinerlei Rechtsbehelf.
    Und dann lief es wie immer; eine Petition wurde aufgesetzt, Briefe wurden in der Zeitung abgedruckt, in den Fernsehnachrichten brachten sie eine kleine Meldung, in Glasgow gab es einen Streikposten, und nach einer, wie es hieß, »Beratungszeit« ging die Behörde wie geplant vor.
     
    Miss Pinch kam vorbei und wollte wissen, was ich mit meiner Zukunft zu tun gedächte. Sie sprach davon wie von einer unheilbaren Krankheit.
    »Du hast eine Zukunft«, sagte sie. »Wir müssen sie berücksichtigen.«
    Sie schlug ein dreimonatiges Bibliothekspraktikum vor. Sie warnte mich vor allzu viel Ehrgeiz – Ehrgeiz sei unangemessen für weibliche Personen, wohingegen das Bibliothekswesen für weibliche Personen angemessen sei. Miss Pinch sagte immer weibliche Person, hielt das Wort mit spitzen Fingern am Schwanz und wandte den Kopf ab.
    Meine Zukunft war der Leuchtturm gewesen. Ohne den Leuchtturm würde ich wieder von vorn anfangen müssen – wieder einmal.
    »Gibt’s nicht noch andere Sachen, die ich machen könnte?«, fragte ich Miss Pinch.
    »Kaum.«
    »Ich würde gern auf einem Schiff arbeiten.«
    »Das wäre ja Wanderarbeit.«
    »Mein Vater ist zur See gefahren.«
    »Und was mit ihm passiert ist, wissen wir ja.«
    »Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist.«
    »Wir wissen, dass er dein Vater war.«
    »Ich bin ihm passiert, meinen Sie?«
    »Exakt. Und das war ja wohl schwierig genug.«
    Miss Pinch befürwortete die Automatisierung. Menschen waren ihr nicht geheuer. Sie hatte sich geweigert, unsere Petition zu unterschreiben. Salts, sagte sie, müsse mit der Zeit gehen, was mir eigenartig vorkam, wo Miss Pinch doch niemals – weder mit der Zeit noch sonst wohin – gegangen war.
    Salts – mit Brettern vernagelt, vom Meer gepeitscht, ohne Schiffe, der Hafen versandet und ein helles Feuer. Warum musste man das Letzte, was wir hatten, auch noch wegnehmen?
    »Fortschritt«, sagte Miss Pinch. »Wir entfernen ja nicht den Leuchtturm. Wir entfernen Mr Pew. Das ist etwas ganz anderes.«
    »Er ist das Feuer.«
    »Sei nicht albern.«
    Ich sah, wie Pew den Kopf hob und meiner Stimme lauschte.
    »Eines Tages werden Schiffe ohne Mannschaften fahren und Flugzeuge ohne Piloten fliegen, und die Fabriken werden von Robotern betrieben und Computer werden ans Telefon gehen, und was wird aus den Menschen?«
    »Wenn Schiffe ohne Mannschaften gefahren wären, als dein Vater im Hafen einlief, hätte deine Mutter keine Schande über sich gebracht.«
    »Und ich wäre nicht geboren worden.«
    »Du wärst keine Waise gewesen.«
    »Wenn ich

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