Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
und unterhielten sich, arbeiteten und sahen fern und sagten: Was kann man machen? So ist eben das Leben.
In ihrem Haus brannte kein Licht. Er klopfte an die Tür, und keiner kam. Sie mußte ausgegangen sein. Wo ihr einziges Kind verschwunden, vielleicht ermordet war? Er mußte an ihren Aufzug denken und wie das Haus aussah. Ein Mädchen für Vergnügungen, dachte er, als Mutter nicht sonderlich geeignet. Wahrscheinlich war einer jener Freunde angetanzt, und sie waren zusammen ausgegangen.
Er klopfte noch einmal, und dann hörte er etwas, eine Art Schlurfen. Schritte schleppten sich zur Tür, verhielten.
»Mrs. Lawrence«, rief er, »ist alles in Ordnung?«
Ein leiser Ton kam als Antwort, halb Schluchzer, halb Stöhnen. Die Tür zitterte, dann schwang sie nach innen.
Ihr Gesicht sah verwüstet und verschwollen aus, aufgedunsen vom Weinen. Sie weinte auch jetzt, sie schluchzte, und Tränen strömten ihr über die Wangen. Er machte die Tür hinter sich zu und knipste das Licht an.
»Was ist geschehen?«
Sie wandte sich von ihm ab und warf sich gegen die Wand, hämmerte mit ihren Fäusten darauf herum. »O Gott, was soll ich nur tun?«
»Ich weiß, es ist hart«, sagte er hilflos, »aber wir tun alles Menschenmögliche. Wir...«
»Ihre Leute«, schluchzte sie, »den ganzen Tag sind sie rein und raus, haben gesucht - und - mich Sachen gefragt. Sie haben das Haus durchsucht! Und die Anrufe, entsetzliche Anrufe. Eine Frau - eine Frau... Oh, mein Gott! Sie hat gesagt, John ist tot, und sie hat beschrieben, wie er gestorben ist, und sie hat gesagt, es sei alles meine Schuld! Ich kann es nicht ertragen, ich kann es nicht ertragen, ich bringe mich um, ich stecke den Kopf in den Gasofen, ich schneide mir die Pulsadern auf...«
»Sie müssen sofort damit aufhören«, schrie er. Sie drehte sich zu ihm um und kreischte ihm ins Gesicht. Er hob die Hand und schlug sie scharf auf die Wange. Sie würgte, schluckte und brach zusammen, sank gegen ihn. Um sie vor dem Fallen zu bewahren, legte er beide Arme um sie, und einen Moment lang klammerte sie sich an ihn wie in einer Umarmung, ihr nasses Gesicht gegen seinen Hals gepreßt. Dann trat sie zurück, das rote Haar flog, als sie sich schüttelte.
»Verzeihen Sie mir«, sagte sie. Ihre Stimme war rauh vom Weinen. “Ich muß verrückt sein. Ich glaube, ich werde verrückt.«
»Kommen Sie hier herein und erzählen Sie. Sie waren doch so optimistisch.«
»Das war heute morgen.« Sie sprach jetzt leise, mit dünner, brüchiger Stimme. Nach und nach, und nicht sehr zusammenhängend, erzählte sie ihm, wie die Polizisten ihre Schränke durchsucht hatten und über ihren Dachboden getrampelt waren, wie sie das Unkraut weggerissen hatten, das die Wurzeln der alten Bäume in ihrem verwilderten Garten bedeckte. Atemlos berichtete sie von den obszönen Anrufen und den Briefen, die, angeregt durch die Geschichte in den Abendzeitungen, mit der zweiten Post gekommen waren.
»Sie sollten keinen Brief öffnen, dessen Handschrift Sie nicht erkennen«, sagte er. »Alles andere sehen erst wir uns an. Und die Telefonate...«
»Ihr Sergeant sagt, es gibt eine Möglichkeit, mein Telefon zu überwachen.« Sie seufzte tief auf, ruhiger jetzt, aber die Tränen flossen noch immer.
»Haben Sie so was wie Brandy in diesem - äh - dieser Behausung?«
»Im Eßzimmer.« Sie brachte ein tränennasses, schwaches Lächeln zustande. »Eine Großtante von mir lebte hier. Diese - hm - Behausung, wie Sie es nennen, gehörte ihr. Brandy hält sich doch Jahre, oder?«
»Die Jahre machen ihn sogar immer besser«, sagte Burden.
Das Eßzimmer glich einer Höhle, war kalt und roch staubig. Er fragte sich erneut, welche Verkettung merkwürdiger Umstände sie wohl hierher verschlagen hatte, und weshalb sie blieb. Der Brandy war in einem Sideboard, das eher einem hölzernen Herrenhaus glich als einem Möbel mit all den Ornamenten, geschnitzten Säulen und Bogen, Nischen und Balkönchen.
»Nehmen Sie sich auch einen«, sagte sie.
Er zögerte. »Na gut. Danke.« Er setzte sich wieder in den Lehnstuhl, in dem er zuvor gesessen hatte, aber sie hockte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Fußboden und blickte mit einem eigenartigen blinden Vertrauen zu ihm auf. Es brannte nur eine Lampe, die hinter ihrem Kopf einen sanften goldenen Schimmer verbreitete.
Sie trank ihren Brandy, und lange Zeit saßen sie schweigend. Schließlich, erwärmt und beruhigt, begann sie über den verschwundenen Jungen zu reden, was er
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