Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
verheiratet.«
Villiers maß ihn mit beleidigendem Blick. »Bemerkenswert«, sagte er, und sein Ton ließ keinen Zweifel daran, daß Marriott, ein gebildeter Mann und Kollege von ihm, sich in seinen Augen durch die Verbindung mit der Familie des Chief Inspectors entschieden verschlechtert hatte.
Wexford schluckte seinen Zorn hinunter. »Ist er ein Freund Ihres Schwagers?«
»Von Zeit zu Zeit läßt er sich im Herrenhaus blicken.« Gefühllos befreite Villiers seinen Arm aus dem Klammergriff seiner Frau und ließ sich in einen Sessel plumpsen. Aus Verzweiflung oder vielleicht nur aus schlichter Erschöpfung schloß er die Augen. »Ich will einen Drink«, sagte er, und als Georgina sich mit baumelnden Ohrringen über ihn lehnte, setzte er hinzu: »Irgendwo muß noch eine Flasche Gin sein. Geh und hol sie bitte.«
6
Ein Riesenglück, dachte Wexford bei sich, als er bei Sonnenuntergang die High Street von Kingsmarkham entlangschlenderte, daß er aus purem Zufall auf einen Busenfreund von Quentin Nightingale gestoßen und dieser Busenfreund ausgerechnet Lionel Marriott war. Falls er sich aus seinem riesigen Bekanntenkreis in der Stadt jemanden hätte aussuchen dürfen, um ihn über das Privatleben der Nightingales aufzuklären, wäre seine Wahl mit Sicherheit auf Marriott gefallen. Doch es war ihm nicht in den Sinn gekommen, Marriott mit dem Herrenhaus in Verbindung zu bringen, wenn dies vielleicht auch ein Versäumnis war, denn welches bedeutende Haus in der weiteren Umgebung blieb Marriott schon verschlossen? Wer auch nur den leisesten Anspruch auf Bildung und Geschmack erhob, war auf du und du mit ihm. Wer außer einem Einsiedler konnte die Bekanntschaft mit dem gastfreundlichsten und klatschsüchtigsten Einwohner Kingsmarkhams leugnen?
Wexford war ihm fünf- oder sechsmal begegnet, und für Marriott genügte das, um ihn unter seine intimen Freunde zu zählen und ein seltenes Vorrecht für sich in Anspruch zu nehmen. Nur wenige in Kingsmarkham kannten den Vornamen des Chief Inspectors, und noch weniger redeten ihn damit an. Marriott hatte dies seit ihrem ersten Kennenlernen getan und verlangte dafür von Wexford, daß dieser ihn Lionel nenne.
Marriotts Leben war ein offenes Buch. Man mochte vielleicht nicht darin blättern, doch falls man sich allzu diskret zeigte, blätterte er selbst darin, denn er war ebenso begierig, von seinem eigenen Privatleben zu berichten wie von dem seines enormen Freundeskreises.
Er war ungefähr in Wexfords Alter, aber flink und drahtig, und früher einmal mit einer faden kleinen Frau verheiratet, die bequemerweise gestorben war, als Marriotts Gelangweiltsein in ihrem Eheleben gerade den Zenit erreicht hatte. Marriott sprach von ihr stets als »meine arme Frau« und erzählte höchst geschmacklose Geschichten von ihr, über die man aber trotzdem einfach lachen mußte, weil seine arabeskenreiche Erzählkunst stets die komische Seite aller Mißlichkeiten des Menschseins hervorhob. Hinterher beschwichtigte man sein Gewissen mit der Überlegung, daß die Dame besser tot als mit Marriott verheiratet war, der sich nie lange an jemanden fesseln ließ und »alles übrige«, wie Shelley meint, »obgleich schön und gut, schnödem Vergessen anvertraut«.
Denn vor »schnödem Vergessen« oder wenigstens vor Einsamkeit schien Marriott sich am meisten zu fürchten. Weshalb lud er sich sonst jeden Abend Gäste ins Haus? Weshalb sollte er sonst tagsüber am King’s englische Literatur unterrichten, obwohl er über private Einkünfte verfügte, die selbst für seine Bedürfnisse, seine Freigebigkeit und Gastfreundschaft ausreichten?
Seit dem Tod seiner Frau hatte er kein Einsiedlerleben geführt, und jedesmal, wenn Wexford ihm begegnete, hatte er eine neue Begleiterin, stets attraktive, elegant gekleidete Frauen in den Vierzigern. Höchstwahrscheinlich, dachte Wexford, als er in die von der High Street abzweigende Gasse einbog, die zu Marriotts Haus führte, war jetzt die derzeitige Favoritin dort, arrangierte Marriotts Blumen in den Vasen, hörte sich seine Anekdoten an und bereitete die Häppchen für die unweigerlich folgende Cocktailparty vor.
Sein Haus lag am Ende einer im georgianischen Stil erbauten Straßenzeile, deren Gebäude alle außer dem ersten in Geschäfte, Eigentumswohnungen oder Lagerhäuser umgewandelt worden waren. Im Kontrast zu deren baufälligem Aussehen war sein Haus mit dem strahlend weißen Außenanstrich, der alle zwei Jahre erneuert wurde, den hübschen kleinen
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