Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
in einen Mordfall verwickelt sei, habe ein Recht auf ein Privatleben. Ich werde Ihnen mein Privatleben offenlegen müssen, damit Sie verstehen, weshalb ich so gehandelt habe.« Unvermittelt stand er auf, lief rasch zu den Bücherregalen und legte die Handflächen auf die mit Goldprägung versehenen Einbände aus Saffianleder. Er starrte auf die Titel der Bücher, ohne sie vielleicht wirklich wahrzunehmen, und sagte: »Alle zwei Wochen ging ich zu ihr aufs Zimmer, immer Samstag abends. Sie schlug dann die Bettdecke zurück und sagte jedesmal das gleiche: ‘Das ist aber nett, Liebling’, und hinterher, wenn ich sie verließ, um wieder in mein Zimmer zu gehen, sagte sie: ‘Es war wunderschön, Liebling.’ Nie hat sie mich mit Namen angesprochen. Manchmal dachte ich, sie hätte ihn vergessen.«
Er hielt inne. Auch Wexford schwieg und hörte mit ernster Miene zu.
»Es war so langweilig«, sagte Quentin zu den Büchern. »Ich war einsam. Manchmal kam ich mir vor, als wäre ich mit so etwas wie einer schönen lebendigen Statue verheiratet, einer Puppe, die lächelte, hübsche Kleider trug und sogar über einen eng begrenzten Wortschatz verfügte.«
»Und dennoch waren Sie glücklich?« warf Wexford behutsam ein.
»Habe ich das behauptet? Vielleicht habe ich mich daran gewöhnt, mir das einzureden, weil alle es sagten.«
Er löste sich von dem Bücherregal und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Einen Augenblick lang schien es, als habe er das Thema gewechselt, denn er sagte: »Früher hatten wir mehr Personal, eine richtige Dienerschaft, aber Elizabeth hat allen gekündigt. Daraufhin hatten wir eine Reihe Au-pair-Mädchen, zwei Französinnen und eine Deutsche. Ich glaube, Elizabeth legte bei der Auswahl Wert darauf, daß die Mädchen unscheinbar waren.« Er drehte sich um zu Wexford und sah ihm direkt in die Augen. »Vielleicht hielt sie Nelleke für unscheinbar. Sie hat das Mädchen einmal als ‘derbe Dicke’ bezeichnet. Ich - ich fühlte mich wohl von Anfang an zu Nelleke hingezogen, aber ich habe nie irgend etwas in der Richtung unternommen. Sie war ein junges Mädchen, und ich - nun ja, ich vertrat sozusagen Elternstelle bei ihr. Ich redete mir ein, ich sähe in ihr so etwas wie eine Tochter. Wie wir uns doch selbst in die Tasche lügen!« Er wandte das Gesicht ab. »Ich kann einfach nicht die richtigen Worte finden, um Ihnen davon zu erzählen. Ich...«
»Sie haben mit ihr geschlafen?« fragte Wexford.
Quentin nickte.
»Vorgestern nacht?«
»Es war nicht das erste Mal, Chief Inspector. Während unserer sechzehn Ehejahre habe ich meine Frau nie betrogen. Möglichkeiten dazu boten sich mir genug. Welchem Mann nicht? Ich habe meine Frau geliebt. In all den Jahren hoffte ich auf ein Zeichen von Wärme, nur ein spontanes Zeichen, daß sie mich als Mensch anerkannte. Ich gab die Hoffnung nie auf, bis Nelleke kam. Damals sah ich zum erstenmal eine Frau, zu der ich mich hingezogen fühlte, eine Frau, die unter meinem Dach lebte und sich auch benahm wie eine Frau. Vielleicht nicht so, wie sich eine Frau benehmen sollte. Sie hatte überall Freunde und pflegte mir von ihnen zu erzählen. Manchmal ging Elizabeth abends aus, machte einen Spaziergang im Park oder legte sich früh schlafen, und wenn Nelleke dann von einer Verabredung nach Hause kam, erzählte sie mir davon, lachte sich halb tot dabei und redete, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt, als Lust zu spenden und zu empfangen.
Eines Abends, nach einem dieser Gespräche, lag ich im Bett und wartete darauf, daß Elizabeth nach Hause kam. Ich habe gesagt, ich hätte die Hoffnung aufgegeben, aber das ist nicht wahr. Ich habe immer gehofft. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so sterbenseinsam gefühlt zu haben wie an jenem Abend. Ich würde alles darum geben, ging mir durch den Kopf, dieses Haus, das Vermögen, das ich angehäuft habe, wenn sie nur in mein Zimmer kommen, sich aufs Bett setzen und mit mir reden würde.«
Wieder verbarg er das Gesicht. Als er die Hände sinken ließ, erwartete Wexford, Tränen auf seinen Wangen zu sehen, denn seinen letzten Satz hatte ein Schluchzen begleitet, doch er war ganz ruhig, anscheinend sogar erleichtert, sich schon fast alles von der Seele geredet zu haben.
»Schließlich hörte ich sie auf der Treppe«, sagte er. »Ich sehnte sie mir förmlich ins Zimmer. Meine ganze Willenskraft bot ich dazu auf. Weiß Gott, wie ich mich dazu gebracht habe, nicht laut nach ihr zu rufen. Dann ging ihre Schlafzimmertür
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