Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
zu, und ich hörte, wie sie sich ein Bad einließ. In diesem Augenblick vergaß ich, wer ich war, mein Alter, meine Stellung, den Respekt gegenüber meiner Frau. Ich schlüpfte in meinen Morgenmantel und ging nach oben. Ich hatte mir zurechtgelegt, was ich zu Nelleke sagen wollte: daß ich Gas gerochen und mir gedacht hätte, es käme aus ihrem Zimmer. Selbstverständlich hatte ich kein Gas gerochen. Das einzige, was aus ihrem Zimmer kam, war die leise Musik aus dem Radio.
Ich klopfte an. ‘Herein!’ rief sie. Sie hatte sich im Bett aufgesetzt und las in einer Illustrierten. Das mit dem Gas brauchte ich gar nicht zu sagen. Es klingt unglaublich, aber ich habe kein Wort gesprochen. Sie lächelte mich an und streckte die Arme aus...«
Plötzlich verstummte er. Wie in einem altmodischen Roman, dachte Wexford. Hätte man es aufgeschrieben, wären an dieser Stelle drei Sternchen gefolgt. Quentin Nightingales Sternchen äußerten sich in Form eines jähen und heftigen Errötens, wodurch das Weiß von Haar und Schnurrbart stärker betont wurde und ihn älter wirken ließ. Er suchte nach Worten, und da ihm der Chief Inspector nicht zu Hilfe kam, sagte er:
»Es - nun, es blieb nicht bei diesem einen Mal. Oft kam es nicht vor. Aber eben auch vorgestern nacht. Ich bin um Viertel nach elf zu Nelleke hinaufgegangen. Ich wußte nicht, ob Elizabeth schon zurück war. Ich habe nicht an Elizabeth gedacht. Nelleke und ich - jedenfalls blieb ich die ganze Nacht bei ihr. Erst Palmers Schritte im unteren Stock weckten mich. Ich spürte, daß etwas nicht in Ordnung war, deshalb stand ich auf, zog mich an und traf ihn auf der Terrasse.«
»Schade, daß Sie uns das nicht schon früher erzählt haben«, sagte Wexford und runzelte die Stirn.
»Versetzen Sie sich einmal in meine Lage. Hätten Sie etwas davon gesagt?«
Wexford zuckte mit den Schultern. »Darum geht es nicht.« Er wußte nicht, wie er seine Gefühle erklären sollte. Ein Alibi war zerstört und durch ein glaubhafteres ersetzt worden. Wenn so etwas geschah, verspürte er normalerweise Zorn wegen der vergeudeten Zeit und Erleichterung über den erreichten Fortschritt. Sein augenblickliches Unbehagen war nicht normal, und kurz fragte er sich nach den Gründen dafür. Dann war es ihm klar. Er hatte sich einen unentschuldbaren Fehler erlaubt: persönliche Betroffenheit. Was er für Quentin Nightingale empfand, war schlicht und einfach Neid.
»Andere Zeugenaussagen werden dies bestätigen müssen, Mr. Nightingale«, sagte er kühl und ungerührt.
Quentin erblaßte erneut. »Mir ist klar, daß Sie Nelleke befragen werden. Es wird sie nicht in Verlegenheit bringen. Sie ist merkwürdig, einzigartig. Sie ist... Ach, ich verschwende Ihre Zeit. Entschuldigen Sie.«
Wexford ging nach oben. Im ersten Stock angelangt, blieb er einen Moment vor der Tür zu Quentins Schlafzimmer stehen, dann wandte er sich der weiterführenden Treppe zu, und als er die ersten Stufen erklomm, hörte er von oben Musik. Der verbotene Traum, den sein Neid auf Nightingale ausgelöst hatte, bekam dadurch so etwas wie Substanz und rückte ihn in den Bereich des Möglichen. Eine sanfte, kehlige Stimme sang den Hit Nummer eins, sang von Liebe. Heftige Sehnsucht, ein starkes und wildes Verlangen, nur für eine Stunde noch einmal die verlorene Jugend zu erlangen, überkam Wexford. Und mit einemmal schien das Altwerden die einzige Tragödie im Leben, der Schmerz, im Vergleich zu dem alle anderen Schmerzen nichtig und klein erschienen. Er war reif, weise und abgeklärt, aber dennoch hätte er am liebsten laut aufgeschrien: »Das ist ungerecht!«
Er kam zu der Tür und pochte vernehmlich. Die Musik hätte verstummen müssen. Statt dessen verharrte die Stimme auf einem langgezogenen lauten Ton, und Nelleke kam an die Tür und öffnete ihm.
Ihr rosa Kleid war wie ein Nachthemd mit weißen Rüschen besetzt, und auch der tiefe Ausschnitt, in dem milchweiße Halbmonde und Schultern zu sehen waren, an denen sogar die Knochen weich wirkten, erinnerte an ein Nachthemd. Sie lächelte ihn an, und in ihren meerblauen Augen blitzte Humor auf. Quentin Nightingale hatte dies alles besessen, mühelos, ohne langes Herumgerede. Auch der Kellner im Olive and Dove. Wie viele wohl sonst noch?
Zum erstenmal in seiner Laufbahn verstand er, was jene Männer antrieb, die er verhörte und vor Gericht brachte, die Männer, die ritterliches Benehmen, gesellschaftliche Tabus und sexuelle Beherrschung eine Weile vergessen, die
Weitere Kostenlose Bücher