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Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht

Titel: Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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angerufen?«
    »Nicht gleich«, erwiderte sie. Dabei sah sie auf, und ihre Blicke trafen sich. Ihre Augen waren graugrün, und es lag ein ungläubiges Entsetzen in ihnen, aber ihre Stimme blieb ruhig und leise. »Ich bin erst zu allen Jungen nach Hause gegangen. Mrs. Crantock kam mit, und als alle das gleiche gesagt hatten über den Streit und daß John allein weggegangen sei, hat Mrs. Crantock ihr Auto aus der Garage geholt, und wir sind die Mill Lane entlanggefahren bis ganz nach Forby und zurück. Wir haben einen Mann mit Kühen getroffen und ihn nach John gefragt, und einen Briefträger und einen Mann, der Gemüse lieferte, aber keiner hatte ihn gesehen. Da habe ich Sie angerufen.«
    »Dann ist John also seit ungefähr halb vier verschwunden?«
    Sie nickte. »Fast drei Stunden. Es wird langsam dunkel. Er hat Angst vor der Dunkelheit.«
    Sie bewahrte ihre Haltung, doch Burden merkte, daß ein falsches Wort oder eine falsche Geste seinerseits, vielleicht sogar ein plötzliches Geräusch, sie aus dem Gleichgewicht bringen und einen Entsetzensschrei auslösen konnte. Er wußte nicht recht, was er von ihr halten sollte. Sie sah eigenartig aus, wie eine Frau aus der Welt, die er nur aus Zeitungen kannte. Er hatte Bilder von ihr gesehen, oder doch von Frauen, die ihr sehr ähnelten, wie sie aus Londoner Gerichtsverhandlungen kamen, nachdem sie des verbotenen Besitzes von Cannabis überführt waren. Solche wie sie wurden nach einer Überdosis von Barbituraten und Alkohol tot in möblierten Zimmern gefunden. Solche wie sie? Das Gesicht stimmte, abgehärmt und blaß, und die wilde Haartracht und die abstoßende Kleidung. Es war ihre Beherrschung, die ihn verwirrte, und die süße, sanfte Stimme, die nicht in das Bild exzentrischen Umgangs und ungesunder Lebensweise passen wollten, das er für sie entworfen hatte.
    »Mrs. Lawrence«, begann er, »bei unserer Arbeit haben wir es mit Dutzenden von Fällen verschwundener Kinder zu tun, und mehr als neunzig Prozent von ihnen werden heil und gesund wiedergefunden.« Das Mädchen, das man überhaupt nicht gefunden hatte, würde er nicht erwähnen. Wahrscheinlich tat es jemand anders, irgendein klatschsüchtiger Nachbar, aber dann wäre der Junge vielleicht schon wieder bei seiner Mutter. »Wissen Sie, was mit den meisten von ihnen passiert? Sie reißen aus Trotz oder Abenteuerlust aus, verlaufen sich und werden müde, dann legen sie sich in eine warme Höhle und - schlafen.«
    Ihre Augen bestürzten ihn. Sie waren so riesig und starr und schienen kaum einmal zu blinzeln. Jetzt sah er darin einen schwachen Hoffnungsschimmer aufkommen. »Sie sind sehr freundlich zu mir«, sagte sie ernsthaft. “Ich traue Ihnen.«
    Verlegen erwiderte Burden: »Das ist gut. Sie vertrauen uns und überlassen uns die Sorgen, ja? So, wann kommt Ihr Mann nach Hause?«
    »Ich bin geschieden. Ich lebe allein.«
    Es überraschte ihn nicht. Natürlich war sie geschieden. Sie konnte nicht älter als achtundzwanzig sein, und mit achtunddreißig war sie wahrscheinlich zwei weitere Male verheiratet und geschieden. Der Himmel mochte wissen, durch welche Verquickung von Umständen sie aus London, wohin sie gehörte, ins tiefste Sussex verschlagen worden war, um hier am Rande der Verwahrlosung zu leben und der Polizei unerbetenen Ärger durch ihre Nachlässigkeit zu machen.
    Ihre leise Stimme, inzwischen ziemlich zittrig, drang in seine harschen und vielleicht ungerechten Gedanken. »John ist alles, was ich habe. Ich habe nichts auf der Welt außer John.«
    Und wessen Schuld war das? »Wir werden ihn finden«, sagte Burden entschieden. »Ich werde sehen, daß ich eine Frau finde, die ein bißchen bei Ihnen bleibt. Vielleicht diese Mrs. Crantock?«
    »Würden Sie das tun? Sie ist sehr nett. Die meisten Leute hier sind sehr nett, obwohl sie nicht...« Sie hielt inne und überlegte. »Sie sind so anders als meine früheren Bekannten.«
    Darauf hätte ich wetten mögen, dachte Burden. Er warf einen kurzen Blick auf das Patchworkkleid. Zu welchem respektablen Anlaß würde eine Frau so ein Ding tragen wollen?
    Sie kam nicht mit ihm zur Tür. Sie blieb, blicklos ins Leere starrend und abwesend mit einer ihrer langen Halsketten spielend, sitzen. Aber als er draußen war und zurückschaute, sah er ihr weißes Gesicht am Fenster, einem verschmierten, schmutzigen Fenster, das ihre schmalen Hände nie geputzt hatten. Einen Moment trafen sich ihre Blicke, und die Konvention zwang ihm ein unbehagliches Lächeln ab. Sie

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