Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
komme ich später wieder.«
Gemma. Eigenartiger Name. Er glaubte nicht, ihn schon mal gehört zu haben. Natürlich, sie mußte einen fremdartigen Namen haben, entweder hatten ihre ebenso exzentrischen Eltern sie damit etikettiert, oder - wahrscheinlicher noch - sie hatte ihn selbst angenommen, weil er so ausgefallen war. Voll plötzlicher Ungeduld mit sich selbst, fragte er sich, weshalb er in dieser ärgerlichen Art und Weise Spekulationen über sie anstellte, weshalb jede neue Information über sie ihm Anlaß zu weiteren Fragen gab. Weil sie in einen Mordfall verwickelt ist oder es demnächst sein wird, sagte er sich. Erfüllt von diesem grellen, wilden und unerhörten Bild, das er sich von ihr zurechtgelegt hatte, stieß er die Tür zum Wohnzimmer auf und stand wie gebannt, verblüfft über das, was er sah. Und doch war es nichts anderes, als was er vorhin zurückgelassen hatte, ein totenblasses, verängstigtes Mädchen, in einem Sessel kauernd und wartend, wartend...
Sie hatte das elektrische Kaminfeuer angeschaltet, was jedoch wenig dazu beitrug, den Raum zu erwärmen, und sie saß in eines der Tücher gehüllt, die er hatte herumliegen sehen, ein schweres, schwarz-goldenes Ding mit langen Fransen. Es war ihm unmöglich, sie sich mit einem Kind vorzustellen, dem sie Gutenachtgeschichten vorlas oder Cornflakes in ein Schüsselchen schüttete. Singend in irgendeinem Club, ja, und dazu Gitarre spielend.
»Möchten Sie gern einen Tee?« fragte sie, ihm zugewandt. »Ein Sandwich? Geht ganz schnell.«
»Machen Sie sich für mich keine Mühe.«
»Hat Ihre Frau denn etwas für Sie, wenn Sie nach Hause kommen?«
»Meine Schwägerin«, sagte er. »Meine Frau ist tot.«
Er sagte das nicht gern. Die Leute waren sofort peinlich berührt, erröteten oder zogen sich sogar etwas zurück, als habe er eine ansteckende Krankheit. Und dann folgten die unbeholfenen, unaufrichtigen Teilnahmsbezeugungen, bedeutungslose Worthülsen, heruntergeplappert und gleich wieder vergessen. Nie hatte er den Eindruck, es berühre die Leute wirklich, nie, bis zu diesem Augenblick.
Mit leiser, verhaltener Stimme sagte Gemma Lawrence: »Das tut mir entsetzlich leid. Sie muß noch sehr jung gewesen sein. Das war ein großes Unglück für Sie. Jetzt verstehe ich auch, woher es kommt, daß Sie so gütig mit anderen Unglücklichen umgehen können.«
Er schämte sich, und die Scham ließ ihn stammeln. “Ich - also... ich glaube, ich hätte doch gern ein Sandwich, wenn es keine große Mühe macht.«
»Wie sollte es?« fragte sie verwundert, als sei ihr die höfliche Floskel neu. »Natürlich möchte ich gern etwas tun, als Dank für alles, was Sie für mich tun.«
Sie brachte die Sandwiches nach sehr kurzer Zeit herein. Man sah, daß sie hastig zubereitet waren. Schinkenscheiben rasch zwischen grob geschnittene Brotscheiben geklemmt, Tee in Bechern ohne Untertassen.
Burden war sein Leben lang von Frauen verwöhnt worden, die ihm sein Essen in zartem Porzellangeschirr auf Tabletts mit Spitzendeckchen serviert hatten, und er nahm ohne große Begeisterung ein Sandwich, doch als er hineinbiß, stellte er fest, daß der Schinken schmackhaft und nicht zu salzig und das Brot frisch war.
Sie setzte sich auf den Fußboden und lehnte sich mit dem Rücken an den Sessel ihm gegenüber. Er hatte Wexford gesagt, daß er noch viele Auskünfte von ihr brauchte, und er wagte nun einige Routinefragen, Johns erwachsene Bekannte betreffend, zum Beispiel Eltern von Schulkameraden oder ihre eigenen Freunde. Sie antwortete ruhig und klug, und der Polizistenteil seines Hirns registrierte ihre Antworten automatisch. Gleichzeitig aber widerfuhr ihm etwas Eigenartiges. Er wurde sich mit gewissem Unbehagen einer Tatsache bewußt, die jeder normale Mann schon beim ersten Blick erkannt hätte. Sie war schön. Er mußte wegsehen, als er das Wort dachte, dennoch hatte er dabei ihr Bild vor Augen, wie eingebrannt auf seiner Netzhaut, ein brillantes Bild dieses weißen, schöngeschnittenen Gesichts und, noch beunruhigender, der langen Beine und vollen, festen Brüste.
Ihr Haar sprühte im Feuerschein zinnoberrot, ihre Augen zeigten das klare Wassergrün von Juwelen, wie man sie auf dem Meeresgrund findet. Das Schultertuch gab ihr ein exotisches Aussehen, wie dem Rahmen eines präraffaelitischen Gemäldes entstiegen, verhalten, irreal, ungeeignet für gewöhnliche Alltäglichkeiten. Und doch umgab sie etwas völlig Natürliches und Impulsives. Zu natürlich, allzu real,
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