Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
dachte er, plötzlich alarmiert. Sie ist realer und natürlicher und bewußter, als es einer Frau überhaupt zusteht.
Rasch sagte er: “Mrs. Lawrence, Sie haben John doch sicher eingetrichtert, nie mit Fremden zu reden.«
Das Gesicht wurde ein Spur blasser. »O natürlich.«
»Hat er jemals etwas erzählt, daß ein Mann ihn angesprochen hätte?«
»Nein, nie. Ich bringe ihn zur Schule und hole ihn wieder ab. Er ist nur allein, wenn er zum Spielen rausgeht, und dann sind die anderen Jungen bei ihm.« Sie blickte auf, und jetzt waren alle Anzeichen von Alarm in ihrem Gesicht zu erkennen. »Was meinen Sie damit?«
Warum mußte sie so direkt fragen? »Keiner hat mir gesagt, er habe einen Fremden mit John reden sehen«, sagte er wahrheitsgetreu, »aber ich muß es trotzdem nachprüfen.«
Im gleichen entschiedenen, vernünftigen Tonfall sagte sie: »Mrs. Dean hat mir erzählt, letzten Februar sei ein Kind in Kingsmarkham verschwunden und nie gefunden worden. Sie kam vorbei, während Mrs. Crantock hier war.«
Burden vergaß, daß er Mrs. Dean je in Gedanken zugestimmt hatte. In wildem, wenig polizeineutralem Tonfall brach es aus ihm heraus, bevor er sich noch bremsen konnte. »Warum, zum Teufel, können diese Klatschtanten nicht den Mund halten?« Er biß sich auf die Lippe, verwundert darüber, weshalb ihre Worte solche Heftigkeit bei ihm auslösten, und über den Wunsch, nach nebenan zu gehen und dieser Deanschen eine runterzuhauen. »Das Kind war ein Mädchen«, sagte er dann, »und viel älter. Diese Sorte von - äh - Perversen, die den Drang haben, Mädchen anzugehen, interessieren sich normalerweise nicht für kleine Jungen.« Aber stimmte das auch? Wer konnte schon die Rätsel eines gesunden Hirns verstehen, ganz zu schweigen von denen eines kranken?
Sie zog das Tuch enger um sich und sagte: »Wie soll ich die Nacht überstehen?«
»Ich werde Ihnen einen Arzt holen.« Burden trank seinen Tee aus und stand auf. »War nicht in der Chiltern Avenue irgendwo ein Schild?«
»Ja, Dr. Lomax.«
»Also, wir werden diesem Lomax ein paar Schlaftabletten abschwatzen und eine der Frauen bitten, die Nacht über hierzubleiben. Ich sorge dafür, daß Sie nicht allein gelassen werden.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Sie senkte den Kopf, und er sah, daß sie nun schließlich doch angefangen hatte zu weinen. »Sie werden sagen, es sei nur Ihr Beruf und Ihre Pflicht, aber es ist mehr als das. Ich - ich danke Ihnen so sehr. Wenn ich Sie ansehe, dann denke ich, wenn er da ist, kann John nichts zustoßen.«
Sie sah ihn an, wie ein Kind seinen Vater anschauen sollte, doch er konnte sich nicht erinnern, daß seine eigenen Kinder ihn je so angesehen hätten. Solches Vertrauen war eine schreckliche Verantwortung, und er wußte, daß er sie nicht nähren durfte. Die Chancen, daß der Junge tot war, standen inzwischen fünfzig zu fünfzig, und er war nicht Gott, der die Toten lebendig machen konnte. Er sollte vielleicht sagen, daß sie sich keine Sorgen machen, nicht daran denken dürfe - doch wie grausam, wie dumm und wenig einfühlsam! -, und alles, was er angesichts dieser Augen herausbrachte, war: »Ich gehe jetzt zum Arzt, er wird sich darum kümmern, daß Sie eine gute Nacht haben.« Dem war nichts hinzuzufügen, aber er sagte: »Schlafen Sie nicht zu lange, ich bin morgen früh um neun wieder bei Ihnen.«
Dann verabschiedete er sich. Er wollte eigentlich nicht zurückschauen. Irgend etwas drängte ihn. Sie stand in der Haustür, umrahmt von gelbem Licht, eine merkwürdige, fremdländische Gestalt in ihrem Zigeunertuch, ihr Haar so lebendig, daß es in Flammen zu stehen schien. Sie winkte ihm verhalten und etwas scheu zu, mit der anderen Hand wischte sie die Tränen von den Wangen. Er hatte Bilder von solchen Frauen gesehen, jedoch nie eine gekannt, nie mit einer gesprochen. Unwillkürlich fragte er sich, ob er deshalb so leidenschaftlich wünschte, daß das Kind gefunden wurde, weil das bedeutete, daß er sie dann nie mehr sehen mußte. Er wandte sich abrupt ab, der Straße zu, um Dr. Lomax zu verständigen.
Blaß und verschwommen, als treibe er in einem Teich, driftete ein riesiger Mond über die Felder. Burden wartete, bis die Suchmannschaften gegen Mitternacht zurückkamen. Sie hatten nichts gefunden.
Grace hatte ihm einen Zettel hingelegt: ‘John hat bis elf auf Dich gewartet, weil Du ihm bei seinen Mathematikaufgaben helfen solltest. Könntest Du mal einen Blick darauf werfen? Er war
Weitere Kostenlose Bücher