Der Liebe eine Stimme geben
besteht aus einer geschliffenen robusten Steinplatte, in die bernsteinfarbene Meerglasstückchen eingelassen sind. Beth gleitet mit einer Hand über die kühle Oberfläche. Sie ist schön, ein Kunstwerk. Aus den Lautsprechern dröhnt Technomusik. Hier wird niemand »Pour Some Sugar on Me« singen.
»Bitte sehr.« Jimmy stellt Beth ein randvoll mit rosa Flüssigkeit gefülltes Martiniglas hin. »Der beste Drink auf der Karte.«
Beth nimmt einen Schluck. Es schmeckt süß und würzig zugleich, mit einem kräftigen, aber nicht unangenehmen Kick, die Art Drink, von der sie leicht betrunken werden könnte.
»Das ist gut. Was ist das?«, fragt Beth.
»Wodka, Rum, Chili, Limette und Ingwer. Es heißt Hot Passion Martini.«
Hot Passion? Was tut er da? Beth ist verlegen, empört und dann seltsam geschmeichelt.
»Was soll denn das mit dem Bart?«, fragt Petra.
»Ich probier’s nur aus«, sagt Jimmy, während er mit den Fingern über seine hohlen, seit Neuestem behaarten Wangen kratzt. »Gefällt es dir?«
»Nein«, sagt Petra.
Er lässt sich jetzt seit etwa einem Monat einen Bart wachsen, und Beth findet, es steht ihm. Es sieht verwegen aus, männlich. Und er gleicht sein schwaches Kinn aus. Außerdem kennt sie ihn, sie weiß, dass er es nicht nur ausprobiert. Jimmy hört immer auf, sich zu rasieren, wenn er eine schwere Zeit durchmacht – als sein Dad starb, als der Muschelfang versiegte und sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen konnten, als Jessica in Boston eine Ohrenoperation hatte. Und jetzt. Beth lächelt im Stillen, froh, dass ihre Trennung wenigstens auf einer Stufe mit dem Tod seines Vaters steht, dass sie ihm noch immer etwas bedeutet. Und er hört nicht nur auf, sich zu rasieren, weil er sich zu abgelenkt und überwältigt von dem Stress in seinem Leben fühlt, sondern hauptsächlich, weil er sich durch den Bart beschützt fühlt, weil er sich dahinter verstecken kann. Jimmy, der einen Bart trägt, ist wie Beth, die einen ihrer großen, schwarzen, unförmigen Pullover trägt, die ihr Gesäß bedecken.
Aber heute Abend trägt sie keinen dieser Pullover. Sie trägt ihr Goldie-Hawn-Kleid, und Jimmy trägt einen Bart. Interessant. Sie ist gar nicht auf die Idee gekommen, dass er ohne sie eine schwere Zeit durchmachen könnte. Vielleicht ist das jetzt doch nicht, was er will. Vielleicht leidet auch er.
Angela kommt hinter die Bar und sagt irgendetwas zu Jimmy, was Beth nicht hören kann. Angela lacht, und er lächelt und lässt diese schiefen, charmanten Zähne aufblitzen. Ganz kurz nur, vorsichtig, aber es war da. Sie hat ihn zum Lächeln gebracht.
Leide ruhig weiter. Versteck dich ruhig weiter. Ich hoffe, du wirst irgendwann aussehen wie Grizzly Adams .
Jill beugt sich zu Beth herüber. »Ich glaube, im Moment probiert er genug neue Dinge aus.«
Jimmy wendet seine Aufmerksamkeit jetzt dem Paar neben Jill zu und beginnt, den beiden eine Flasche Wein zu öffnen. Beth nippt an ihrem Martini, in dem Bewusstsein, dass Angela ein paar Schritte hinter ihr steht, dass ihr Noch-Ehemann ein paar Zentimeter vor ihr steht, dass sie selbst zwischen den beiden sitzt. Es ist zu viel. Sie leert ihren Drink. Sie hasst die Vorstellung, dass Angela sie in diesem Augenblick ansieht, sie mustert, ohne dass sie es weiß. Sie fühlt sich verlegen, bloßgestellt. Beth reibt sich die Arme, als wäre ihr kalt, und sieht auf ihr Handy. Keine Nachrichten von den Mädchen.
Außer Stande, Angela zu beobachten, was, wie sie dachte, der ganze Zweck dieses Ausflugs war, sitzt sie da und beobachtet stattdessen Jimmy. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie ihn das letzte Mal so lange angesehen hat. Bevor er ausgezogen ist, schliefen sie voneinander abgewandt, eine Angewohnheit, die wegen seines Schnarchens und seines Zigarrenatems begann. Aufgrund seiner Arbeitszeiten aßen sie nur selten zusammen, und wenn, dann meistens im Wohnzimmer, mit den Tellern auf dem Schoß vor dem Fernseher. Und sie ignorierte seine Existenz insgesamt jedes Mal, wenn sie Streit hatten, was in den letzten paar Jahren oft der Fall war.
Jetzt hat sie einen Platz in der ersten Reihe und nichts zu tun, als ihn zu beobachten. Sie hat ihn noch nie an der Bar arbeiten sehen. Er ist dort hinten ständig in Bewegung, hat alles im Griff, ganz entspannt. Seine Hände bewegen sich selbstsicher, effizient, anmutig, während sie Weinflaschen entkorken, Martinis einschenken, Limetten pressen. Er weiß, wo jede Flasche und jedes Barwerkzeug ist. Er weiß aus dem
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