Der Liebespaar-Mörder - auf der Spur eines Serienkillers
vielleicht sogar für eine Täterschablone hilfreich sein konnten. Der 54-Jährige hatte keine Vorstellung davon, wie erfolgreich seine Methode tatsächlich sein würde. Stichwortartig notierte er:
»Caryl Chessman
unauffälliges Kind
schwere Hirnhautentzündung als 8jähriger
unstetes Familienleben (häufiger Umzug)
schlechte schulische Leistungen (aber: musikalisch, intelligent)
wächst in ärmlichen Verhältnissen auf (Vater arbeitslos, Mutter chronisch krank)
erste Straftat als 15jähriger (Überfall auf Metzgerei)
distanziertes Verhältnis zum Vater
danach Autodiebstähle und Raubüberfälle (Spirituosengeschäft, Supermärkte, später Bordelle )
mehrere Haftstrafen (entweicht mehrmals)
Heirat 1940 (19 J.)
Bandenbildung (Anführer!) ab 1941 (Autodiebstähle, Raubüberfälle auf Tankstellen, Geldfälschung)
nach Verbüßung einer längeren Haftstrafe ab 1947 Raubüberfälle auf Wettbüros mit Schußwaffe!
im selben Jahr Inhaftierung, Scheidung (fühlte sich von seiner Frau hintergangen und ausgenutzt – Motiv für spätere Vergewaltigungen?)
ab 1948 »Rotlicht-Bande« (bis zu diesem Zeitpunkt keine Sittendelikte )
zur Tatzeit 26 Jahre
kein Tötungsdelikt«
Beachtlich erschienen Lemper auch die Selbsteinschätzungen Chessmans, die der damaligen kriminologischen Lehrmeinung des »delinquente nato« (des »geborenen Verbrechers«) widersprachen. »Und dennoch«, schrieb der Todeskandidat, »bist du einmal ein scheues, intelligentes, sensitives Kind gewesen – geliebt, erwünscht, musikalisch begabt, in einem guten Heim und einer gesunden kleinbürgerlichen Umgebung aufgewachsen. Demnach bist du nicht bereits schlecht auf die Welt gekommen. Dennoch hast du dich schlecht entwickelt – nach Meinung mancher: unverbesserlich schlecht. Du wurdest ein Berufsverbrecher, ein Staatsfeind. Warum?«
Die düsteren Familienverhältnisse hatten Chessman früh gelehrt, die menschliche Gesellschaft zu hassen und sie später für die vermeintlichen Erniedrigungen und Benachteiligungen beharrlich und gnadenlos zu bestrafen. Seinem unnahbaren Vater hatte man »keine Chance gegeben«, ihm auch nicht. Und deshalb hatte er sich schließlich Opfer mit Symbolcharakter ausgesucht, Menschen, die stellvertretend für all das standen, wonach er vergeblich verlangte: junge Liebespaare in »teuren Kutschen«. Er glaubte zerstören zu müssen, um nicht selbst zerstört zu werden. Je länger Lemper über diesem Fall grübelte, desto überzeugter war er, dass es Parallelen zum »Düsseldorfer Mörder« geben musste – er wusste nur nicht, welche es waren.
Und noch ein Aspekt gab Lemper zu denken. Chessmans Buch war verfilmt und auch in Düsseldorf gezeigt worden. Im Herbst 1955 war die deutsche Fassung von »Cell 2455 Death Row« in allen Kinos zu sehen gewesen. Vielleicht hatte der »Liebespaar-Mörder« sich von diesem Film inspirieren lassen. Vielleicht war ihm schlagartig bewusst geworden, wie er seinen tiefen Groll endlich loswerden konnte: in die Fußstapfen eines berühmt-berüchtigten Jahrhundert-Gangsters treten – und diesen an Grausamkeit und Kaltblütigkeit noch übertreffen. Und er wollte ein perfekter Verbrecher sein, über den jedermann sprach, vor dem sich alle fürchteten.
Lemper hatte sich einige Fragen beantworten können. Das Profil des Gesuchten hatte erste Konturen bekommen. Nur auf die dringendste Frage wusste der Kriminalist keine befriedigende Antwort: Wie viel von Chessman steckte auch in jenem Mann, der unbarmherzig und gnadenlos das Leben junger Liebespaare auslöschte?
17
Er hielt seine Tochter behutsam in den Armen. Sie war jetzt anderthalb Jahre alt. Sonja schlief. Vorsichtig legte er sie ins Bett. Dann gab er ihr noch einen Kuss.
Am Vormittag hatte er ein Schreiben an eine Versicherung aufgesetzt, jetzt kramte er in einem Karton und suchte nach einem Briefumschlag. Dabei fiel ihm wieder etwas in die Hände, über das er sich immer schon geärgert, es dennoch all die Jahre aufbewahrt hatte – der Bericht seiner ehemaligen Schule an das Städtische Jugendamt. Amüsiert und verbittert zugleich begann er zu lesen: »E. hält sich in der Schule sehr sauber, er ist höflich und stolz auf das, was er macht. Aber seine Großmutter beklagt sich bitter darüber, daß er sich zu nachtschlafender Zeit herumtreibt. Er ist widerspenstig und hat sich öfter zu Tätlichkeiten seiner Großmutter gegenüber hinreißen lassen. Auch in der Schule zeigte er im Laufe der Zeit Ungehorsam, und zwar in schon krankhaft anmutenden
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