Der Liebessalat
beziehungsweise in seinen Büchern bei den Vorbildern der Figuren dafür, daß er sie vernachlässigt habe, und versuche diesen Frauen, die untereinander ein skeptisches Verhältnis entfaltet hätten, im Roman Versöhnungsangebote zu unterbreiten, was alles in allem bedeute, daß er seit Jahren literarisch nichts anderes tue, als seine Liebesangelegenheiten öffentlich zu ordnen und zu tarnen und damit Geld zu verdienen.
Nur im aufgedrehten Zustand der Übermüdung interessierte sich Viktor für sein Verhältnis zu Goethe oder zum Sturm und Drang oder zu den ehrenwerten Tragödiendichtern von heute oder für sein eigenes Image im Literaturbetrieb. Morgen würde ihm all das als unsinnig erscheinen. Daher nutzte er den Ernst der späten oder besser frühen Stunde und untersuchte noch eine letzte Hast-du-vergessen-Fundstelle, die ihm interessant erschien.
»Hast du vergessen«, wurde auch in Ludwig Thomas Komödie
Moral
gerufen, ein Stück, das der später leider reaktionär gewordene Autor 1906 im Gefängnis geschrieben hatte, in das man ihn wegen fortwährenden Beleidigens bayerischer Sittlichkeitsvereine geworfen hatte, und in dessen drei Akten er eben diese Vereine ein weiteres Mal verhöhnte. »Hast du vergessen«– ein Ekel, schlimmer als Professor Unrat noch, wird von seiner Tochter mit diesen Worten daran erinnert, daß er ihr einen Jahrmarktsbesuch versprochen hat. Viktor hatte keine Tochter, und die Szene war belanglos, dennoch, vielleicht weil er von der Schlaflosigkeit überreizt war, fielen ihm eine Menge Versprechungen ein, die er leicht hingeworfen und nicht eingelöst hatte. Ein besserer Ehemann wollte er sein – und das hieß vor allem, die Zeit besser einzuteilen. Im Herzen war genug Platz für verschiedene Frauen, aber nicht in der grausamen Wirklichkeit der 24-Stunden-Tage. Mehr Zeit täte Not – mehr Zeit für Ellen, für Ira, für die Tscherkessin, für Fräulein Strindberg. Was wäre, wenn nun auch noch die Nasenring-Tina auftauchte? Es gab keine Geldprobleme, keine Potenzprobleme, keine Psychoprobleme, es gab nicht einmal berufliche Probleme, keinen Chef, keine Intrigen, nichts – das Paradies, müßte man meinen. Aber der Mangel an Zeit war oft genug so höllisch, daß es Viktor als eine himmlische Vorstellung erschien, sich drei Tage lang einfach nur zu langweilen, einfach nicht zu wissen, was man mit seiner Zeit anfangen sollte. Die Langeweile war ihm so fremd geworden, daß er den einst so geliebten Stücken Tschechows und den alten russischen Romanen immer weniger abgewinnen konnte, die ja vor allem auf dem Sichlangweilen der Figuren beruhten und überhaupt nur aus der Langeweile heraus verständlich waren. So kam es vor, daß Viktor bei Tschechow-Inszenierungen insgeheim zu den ewig vor sich hinstöhnenden Figuren sagte: »Krieg mal deinen Arsch hoch und jaul mir nicht die Ohren voll!«
Das vergessene Versprechen war aber nicht das, worum es in Ludwig Thomas Komödie ging. Es ging vor allem um Figuren, die noch viel schrecklicher waren als ein abgekühlter Frauenverlasser à la Clavigo, um Scheusale, die sich theoretisch für die Treue in der Ehe stark machten und heimlich ihre Affären hatten. So infam war Viktor nicht. Allerdings fielen in diesen Ehen, gesprochen von den Frauen der schmierigen Männer, Sätze, die Viktor nachdenklich stimmten: »Es langt bei uns nicht zum Unglück. Es ist kein Ideal zertrümmert worden. Unsere Ehe weiß keines… Ich bin nicht eifersüchtig. Ich mußte mich daran gewöhnen, ja. Denn diese Heimlichkeiten und kleinen Lügen… verstimmen ein bißchen stark, und man hat Mühe, daß man sich das kameradschaftliche Gefühl erhält. Aber ich bin darüber weggekommen, weil – ja, weil ich dich nie recht ernst genommen habe.«
Das hätte von Ellen kommen können. Obwohl die Sätze aus einem satirischen Lustspiel stammten und an eine gänzlich andere Adresse gerichtet waren, machten sie Viktor kleinlaut, und so stieg er nun, gegen halb sechs Uhr morgens, zu Ellen ins Bett und nahm sich vor, in den nächsten Tagen ein liebenswürdiger, frischrasierter, fingernagelgefeilter, haargewaschener, interessiert zuhörender, zu Spaziergängen bereiter Ehemann zu sein.
Der leere Kühlschrank und die Macht der Ironie
Zu Beginn der nächsten Woche nahm Viktor seine Recherchen in der Züricher Zentralbibliothek wieder auf, sofern man sein nachlässiges Blättern in den Bildbänden »recherchieren« nennen konnte. Auch Fräulein Strindberg war wieder da. Etwas viel
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