Der Liebessalat
Altersunterschied noch hinzunehmen. Wer aber mit sechzig einer Zwanzigjährigen nachstieg, verstieß so vehement gegen die ungeschriebenen Gesetze des guten Geschmacks – er müßte, wenn diese Gesetze juristisch Gültigkeit hätten, zumindest ausgewiesen werden: raus aus dem paradiesischen Mitteleuropa und ab nach Borneo oder Sumatra, in deren Urwäldern die Unsitten erlaubt sein mochten. Das Fräulein Strindberg war, wie sie stolz verraten hatte, unter dreißig und folglich in der Problemzone. Liebe allein nützte hier nichts, man brauchte zusätzlich Kraft und Energie, um sich nicht lächerlich zu machen – und zwar nicht vor seiner Frau, nicht vor seinen Freunden, sondern vor sich selbst.
Wie alle spannenden Bewegungen der Goldmann-Ehe wurde Ellens Entsexualisierungsprogramm nicht eigens angesprochen, diese Intimität hätten beide als unangenehm empfunden. Es war klar, daß man dergleichen nur vor Freunden bereden konnte, und es war auch klar, daß nicht Ellen angeberisch damit begann, sondern daß es Viktors Aufgabe war, in der Rolle des Geschädigten von Ellens erfolgreicher Taktik zu berichten und sich von ihr korrigieren zu lassen. Thomas und Barbara, Carlos und Hanna hörten staunend zu, und die Augen der beiden Freundinnen sprachen Bände: »Ich hätte Viktor längst zum Teufel gejagt!« Sie schüttelten den Kopf über Ellens übergroße Toleranz, und Viktor küßte Ellen und sagte, das Beste an ihrer Toleranz sei die Schärfe, von einer duldsam wabbeligen Toleranz nämlich habe man gar nichts, irgendwann werde er einen Essay schreiben, daß nur die bissige Toleranz die Menschheit weiterbrächte.
Langsam begann sich in Viktors Schädel der neue Roman zu formen, es wurde auch höchste Zeit. Ein Lob der bissigen Toleranz würde darin vorkommen, die Qualen des Altersunterschieds und dann Selma: das Fräulein Strindberg. Sie war sein Trumpfkarte. Von ihr schwieg er. Auch von Ira schwieg er, gewisse Frauen gingen Ellen und die Freunde nichts an. Er sah Selma nicht oft, einmal in der Woche vielleicht, große Fortschritte machte er nicht, näherte sich ihr aber doch langsam und mit Rückschlägen. Besonders gut gefiel ihr, daß sie so gut wie tabu für ihn war. »Aber eben nur so gut wie«, sagte er – und sie lächelte dabei süß.
Die ganze Enterotisierungsgeschichte hörte schlagartig auf, ein Spiel zu sein, und verwandelte sich von einer Stunde zur anderen in eine Katastrophe, als Viktor eines Abends aus der Zentralbibliothek nach Hause kam, etwas betrübt, Selma dort nicht angetroffen zu haben, die in letzter Zeit besonders verschlossen gewesen war. Diese Selma, die noch nie seine Wohnung betreten hatte, wie er nicht die ihre, saß nun auf demselben Sofa, auf dem schon die Entzauberung von der Tscherkessin, von Sabine und Bettina und schließlich von Susanne begonnen hatte. Ohne zu wissen, was hier vorging, war Viktor sofort klar, daß dies ein Tiefschlag war, der ihn völlig aus der Bahn werfen würde. Der Unfall war geschehen, noch tat nichts weh, die Folgen würden furchtbar sein.
Ellen und Selma machten ernste Gesichter. Viktor war darauf gefaßt, daß sich Selma hilfesuchend an Ellen gewandt hatte, ob sie nicht bitte auf ihren Mann einwirken und veranlassen könne, daß er sie, Selma, doch bitte mit seinen unerträglichen Nachstellungen verschonen möge, die ihr Privatleben belasteten und längst schon ihre Arbeit als Dramaturgin gefährdeten. Es dürfte sehr hart werden, wenn Ellen in Selmas Gegenwart an seinen Verstand appellieren und kopfschüttelnd Mäßigung anmahnen würde. Es wurde ihm flau vor dem, was ihm blühte. Ausgebufft wie er war, hatte er eine hübsche junge witzige Frau überschätzt und in Verwirrung gestürzt und mußte nun Buße tun.
Selma stand auf und fiel ihm um den Hals. Sie fiel ihm um den Hals! Sie liebte ihn. Sie war gekommen, um Ellen zu sagen, daß sie nicht mehr ohne ihn leben könnte. Ob sie hier einziehen dürfe? Die Wohnung sei doch groß genug. Ob man nicht eine Ehe zu dritt riskieren sollte. Es könne ja auch mal gutgehen. Und Ellen hatte dazu genickt: Mit diesem hinreißenden Geschöpf würde sie sich arrangieren können. Das war etwas anderes als die Bettina, die schräge Eintagsfliege. Selma war etwas Besonderes. Ihr Ernst war hinreißend. Glückliche Zeiten würden anbrechen.
Die Wahrheit war: Selma war nicht gekommen, um ihre Liebe zu Viktor zu gestehen, und auch nicht, weil sie sich von Viktor belästigt fühlte. Ihr problematischer Freund hatte einen
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