Der Liebessalat
Bergsteigerei sie ihm einerseits nähergebracht, andererseits auch den Verdacht geweckt hätten, sie könne ein stämmiges Milchmädchen mit dicken Beinen sein. Wie er sich immer wieder gefragt habe, wieso er sich überhaupt für eine wildfremde unbekannte Frau so interessiere. Wie erst die Verheißung einer Freundin Ellens, »die auch Ihnen bekannte Kursteilnehmerin Barbara nämlich«, ihm klar gemacht habe, daß es sich bei dieser Penelope wohl eher um eine zierliche Frau handeln dürfte als um ein semmelblondes Trampeltier, und wie sie ihn seitdem als Bergantilope und Alpingazelle begleite, und zwar »zunehmend zauberhaft«.
Dann beschrieb er die reale Begegnung aus seiner Sicht. Um seine Aufgewühltheit zu verstehen, möge sie bitte versuchen, sich das vorzustellen: Da trage man treu wie ein heiliger Narr das Phantombild einer Frau in seinem Hirn und seinem Herzen und – wie Viktor mutig schrieb – auch ein wenig in seinen Hoden. Lange Zeit irre man mit diesem Bild umher. Und dann begegne einem eine Frau, deren Glanz alles überstrahle, auch das besagte Phantombild sei in diesem Augenblick überstrahlt worden. Und dann erfahre man, daß diese wirkliche Frau dieselbe Person ist, die man sich schon seit langem vorzustellen versuchte. »Ich kann das nicht erklären, ohne das Wort ‘Liebe’ zu benützen«, schrieb Viktor: »Ich habe mich in eine wirkliche Frau verliebt und meine Traumfrau vergessen, und dann stellt sich heraus: es ist ein und dieselbe Person. Ich habe in diesem Augenblick in gewisser Weise mein Phantombild von Ihnen mit Ihnen selbst betrogen.«
Damit Penelope keinen falschen Eindruck von ihm bekomme, beschrieb er sich bei der Gelegenheit als gieriges und treuloses Scheusal, schrieb, daß er anfangs groteskerweise gehofft habe, der Typ, der ihn angesprochen habe, möge ihr Bruder sein, schrieb von der Angst, die er gehabt habe, er werde sie, die unbekannte Frau nie wieder sehen, schrieb von Nadja, einer Algerierin, die er einmal vor vielen Jahren nach einer Veranstaltung gesehen und deren Anblick es ihm ähnlich angetan, auch wenn er von dieser Frau nicht vorher geträumt habe. Sie sei aber auf ähnliche Weise verschwunden wie sie, Penelope. Und Viktor schrieb, wie er sich dann bemüht habe, diese Algerierin wiederzufinden, wie er die Begegnung und das Verschwinden haarklein in seinem nächsten Roman geschildert hatte, in der kindischen Hoffnung, sie werde diesen Roman lesen und sich erkennen und melden, wie sie das natürlich nicht getan, aber wie er sie fünf Jahre später dann doch getroffen und wie es gefunkt hatte, und welches Glück es sei, daß er nun nicht fünf Jahre nach ihr. Penelope, suchen müsse, obwohl man, wenn man den Namen Penelope ernst nähme, eigentlich erst nach einer zwanzigjährigen Odyssee das Recht habe, sein mattes Haupt in ihren Schoß zu legen.
Er beschrieb weitere Begegnungen mit Frauen nach seinen Auftritten, um die Einmaligkeit der Begegnung mit Penelope hervorzuheben und auch um sich möglichst ehrlich als furchtbarer Ehemann darzustellen, der nach all seinen Untaten nichts weniger verdient habe als eine Antiii-lope namens Penééé-lope.
Um sieben Uhr stand Ellen auf. Viktor leistete ihr beim Frühstück kurz Gesellschaft, verschwand dann aber sofort wieder in seinem Arbeitszimmer und tippte weiter, beschwerte sich, daß Penelope ihn nicht angesprochen habe, drohte ihr Nachstellungen an, wenn sie nicht nach Basel in die Bongo Bar käme und beschrieb ihr, wie er sich in Basel mit ihrem Freund wegen ihr duellieren werde.
»Wann hast du das nächste Mal Italienisch?« fragte er Ellen, als sie ging, »wegen dieser Kassettenaufnahme.«
»Leider morgen schon wieder«, sagte sie.
Sofort verschwand Viktor und fuhr mit seinem Brief fort, fieberhaft, unter Hochdruck, als müsse er einen Abgabetermin einhalten und merkte plötzlich, daß es über sechzig Manuskriptseiten waren, die er getippt hatte. Er wählte für den Ausdruck eine winzige Schrift, in der die unflätige Textmasse vorn und hinten auf vier Blatt Papier Platz hatte. So konnte er noch von einem »Briefchen« sprechen. Sein Erguß war enorm, aber er sollte harmlos wirken.
Dann versuchte er sich an all die Stücke zu erinnern, die er bei der Veranstaltung als Discjockey aufgelegt hatte, holte die Platten und CDs hervor, nahm sie auf zwei Kassetten auf und versah alle Titel mit peniblen Kommentaren. Er brauchte den ganzen Tag dazu. Besondere Mühe gab er sich bei
Comes Love
von Billie Holiday, ein Blues,
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