Der Liebessalat
zehn Minuten am Hotel sein. Er trieb keinen Sport. Nicht einmal das Wort »Joggen« kam über seine Lippen, und seit seiner Schulzeit war kein Turnschuh mehr an seinem Fuß gewesen. Ab und zu aber, wenn es eilig war oder wenn er sich verliebt hatte, rannte er durch die Stadt. Da er nicht selten in Eile war und sich auch nicht selten verliebte, war er ein nicht ungeübter und flotter Läufer.
Ein Mensch, der mit einem Trainingsanzug im Stadtpark entlangschnauft, fällt nicht weiter auf. Wer aber mit normaler Straßenkleidung, und normalen Schuhen durch die Straßen rennt, wirkt verdächtig: Es kann nur ein Verfolgter oder ein Verfolger sein, ein Dieb, der vor Ladendetektiven flieht, oder einer, der die Frau, die ihn verließ, gleich eingeholt haben und niederstechen wird. Die Leute weichen erschrocken aus, anderen ist anzumerken, daß sie sich überlegen, ob sie sich dem Läufer in den Weg stellen und die Polizei alarmieren sollen. Immer, wenn Viktor rannte, hatte er an der Reaktion der Passanten seinen Spaß, und dieses kleine Vergnügen reichte aus, um ihn nicht ermüden zu lassen. Rannte man in der Nacht, war man den anderen Passanten noch unheimlicher, sie suchten erschrocken die Nähe von Hauseingängen und wichen auf die andere Straßenseite aus. Einmal, in der Ira-Zeit, war er morgens um halb vier durch das dunkle Frankfurt gelaufen, weil er um drei einen Roman abgeschlossen hatte und sich befreit fühlte. Eine junge Frau war von seinen sich schnell nähernden Schritten derart erschrocken, daß sie ihm laut schreiend eine Ladung Tränengas ins Gesicht sprühte. Das war Beate. Als er sich als unschuldiger Dichter und Verächter des Fitneß-Kults und des Frühsports offenbarte, trocknete sie ihm die künstlichen Tränen und entschuldigte sich, und Viktor entschuldigte sich für seine lächerliche Lauferei, und sie bot ihm an, bei ihr zu Hause sein Gesicht mit warmen Wasser zu waschen, und dann schliefen sie so unschuldig miteinander, daß es eigentlich gar kein Sex war, sondern die natürliche Folge einer lauwarmen Gesichtswaschung und Viktor, der sich damals vorgenommen hatte, Ira treu zu bleiben, hatte keine Sekunde das Gefühl, ihr untreu geworden zu sein, und er war es auch nicht, auch nicht, als sich die Begegnungen mit Beate gelegentlich ohne Tränengas wiederholten. Die Beate-Geschichte, obwohl keine bewegte Romanze, reichte in die Ehe mit Ellen hinein, und so selten Viktor an Beate dachte, so war doch immer noch ein Rest von Glut da, den er sofort beschützen wollte, wenn er nur an Ellens herablassende Worte dachte: »Diese Dattel! Diese Lehrerin!« Beate hatte keinen Mann und keinen Freund, und Viktor war ihr gegenüber zurückhaltend, denn er wollte nicht der Liebhaber einsamer Frauen sein, die am Wochenende vergeblich auf seinen Anruf warteten. Lieber eine Frau mit Mann und Freund und vier Kindern, die nie unter seiner Abwesenheit litt, sondern sich freute, wenn sich eine Begegnung einrichten ließ. Eine solche Frau war Rebecca, die Tscherkessin.
Viktor rannte besonders mühelos, weil er es eilig hatte und zugleich verliebt war, eine Mischung, die ihm genug Kraft gegeben hätte, das fürchterliche Hannover von einem Ende zum anderen in Windeseile zu durchqueren. Diesmal war es mehr als nur Verliebtheit, die ihn stärkte. Der Triumph, daß es eine Person wie Rebecca überhaupt gab, kam zu dem Glück dazu, diese Person getroffen und, wie es aussah, gewonnen zu haben. Selbst wenn sie nichts hätte von ihm wissen wollen, wäre Viktor begeistert gewesen von einer Frau, die von ihrem Mann, mit dem sie zwei Kinder hat, zu einer Dichterlesung komplimentiert wird, die sie mit ihrem Freund und Liebhaber besucht, mit dem sie auch zwei Kinder hat – und diese Frau schickt ihren Freund nach der Lesung weg, um den Dichter zu sich nach Hause zu bitten, mit dem sie um ein Haar schläft, und nur weil ihr Mann im Nebenzimmer ist, werden die Handgreiflichkeiten und damit der Beginn der Affaire auf später verschoben. Und diese Frau war keine sexuell enthemmte Brülläffin, keine vierschrötig kettenrauchende Männerverschlingerin, keine unappetitlich distanzlose Teutonin, keine fahlhäutige, weißblond gefärbte, sich auf den hypertrophen Atombusen etwas einbildende Beinebreitmacherin, sondern eine zierliche, zähe, scheue, raffinierte, verspielte, intelligente, belesene, geistreiche, freche, aber nicht forsche, liebeshungrige, aber nicht gierige, die Beine zigeunermädchenhaft an den Körper ziehende, mit ihrem
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