Der Liebessalat
da steht Viktor noch immer, sie streckt den Arm zu einem allerletzten Gruß aus dem Fenster, und er hebt seinen Arm zur Antwort, dann endlich verschwindet er rasch um die Ecke, und geht Richtung Bahnhof, langsam jetzt, denn den Zug wird er nicht mehr erreichen, aber er ist vollkommen glücklich, nicht vergeblich auf ihre letzte Zugabe gewartet zu haben. Den ganzen Tag wird das Lächeln auf seinem Gesicht nicht verschwinden, und auch auf ihrem Gesicht nicht. Sie schaudert bei dem Gedanken, er hätte vergeblich warten können. Welches Geschenk von ihm, einen Zug später zu nehmen, nur für eine sekundenlange kleine Geste. Und schon am nächsten Tag wird sie, noch mit immer demselben Lächeln, einen Brief von ihm öffnen, den er ihr im Zug geschrieben hat und in dem stehen wird, daß sie bei ihrem nächsten Treffen eine freiwillige Wink-Selbstkontrolle besprechen sollten, denn wenn sie so weiter machten, würde er das nächste Mal mit einer fünften oder gar sechsten Wink-Zugabe rechnen, und bald werde er nie mehr von ihr weg an irgendein anderes Ziel kommen, sie würden sich wechselseitig lähmen und am Leben hindern und schließlich ins Verderben stürzen mit ihrem nicht enden wollenden Winken. Für ein weiteres Winken einen Zug später zu nehmen, sei ein tauglicher Beweis für Liebe; zwei Züge zu versäumen, gehe dann schon in Richtung Liebeswahn; drei Züge für ein allerallerallerletztes Winken nach vielen Stunden des Wartens fahren zu lassen, habe aber weder mit Liebe noch mit Liebeswahn zu tun, sondern sei nur noch wahnsinnig, so weit dürfe es nie kommen, niemals! Sie würde hell auflachen beim Lesen seines Briefes.
Viktor hörte dieses Lachen und wußte nicht, von wem es kam. Die Frau war noch nicht gefunden, mit der ein solcher geheimer Wink-Konsens herrschte. Winkmäßig war Susanne ebenso cool wie Ellen, er mußte sich fragen, was an der Susanne-Beziehung so anders war, daß sie überhaupt zu rechtfertigen gewesen wäre, denn nur dann waren nach Viktors innerem Moralkodex die berühmten außerehelichen Beziehungen vertretbar und wenn sie Gefühlsgewinne brachten, die einem die Ehe vorenthielt.
Susanne in Ehren, aber die schmacht- und schmerzlose Geschichte mit ihr war nicht das, was man eine packende Notwendigkeit nennen konnte. Die Prinzessin Aza – wenn das gefunkt hätte, wäre es etwas anderes, wäre es zwingend gewesen. Jeder hätte Viktor verstanden oder verstehen müssen, auch Ellen, wenn er nicht anders gekonnt hätte, als sich dieser zauberhaft-orientalischen Aza-Liebschaft hinzugeben, denn wenn eine solche direkt aus den Märchen von Tausendundeiner Nacht entsprungene Frau seine Neigung erwidert und damit entfacht hätte, wäre es eine Sünde gewesen, dieses einzigartige Glück nicht zu ergreifen. Aza aber war die letzte, die ihm jemals zuwinken würde. Ira hingegen, die Wiedererwärmte, früher auch eine klassische Nichtwinkerin, öffnete jetzt, wenn er sie in Amsterdam besuchte und sich dann wieder davonstahl, durchaus das schmale Fenster zu einem kleinen freundlichen Abschiedsgruß mit Wiedersehenserwartung.
Gegen zwei Uhr nachts wieder zurück in seiner jetzt aufgeräumten Züricher Wohnung, war Viktor wach und litt darunter, daß er im Augenblick keinen Roman in Arbeit hatte, in den er sich hätte stürzen können. Er haderte nicht gern selbst mit seinem Schicksal – lieber schob er das Nachdenken über seine Lage von sich weg und ließ seine Figuren hadern. Noch war er nicht so weit mit dem nächsten Roman. Ein bißchen mußte er noch recherchieren. Noch war seine Vorstellung zu vage, was sich da genau an welchen Orten abspielen sollte. Morgen würde er in die Bibliothek gehen und Reisebücher studieren. Und er würde erneut in den Plattenladen gehen, einen weiteren Versuch machen und noch einmal auf eine oder zwei oder drei vielversprechende CDs setzen, in der Hoffnung, daß sie Stücke enthielten, die sich als unverzichtbar für sein künftiges Leben erweisen würden. Nur das Unverzichtbare hatte einen Sinn. Platten, Filme, Bücher, Konzerte, Reisen, Städte, Länder und Frauen, auf die man verzichten konnte – auf die sollte man auch verzichten. Die Ehe mit Ellen war unverzichtbar wie auch das wiedererwärmte Verhältnis mit Ira. Die Nasenring-Tina und die Tscherkessin waren unverzichtbare Hoffnungen auf eine dringend nötige Erweiterung des erotischen Spektrums. Die Wiedergutmachungsnacht mit Sabine war ein unverzichtbares Gebot des Anstands. Die Sache mit Susanne stand, was die
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