Der Liebessalat
rückblickenden Zerknirschtheit auf einem der Bügelbretter abzulegen. Dabei stieß er in der Enge an das Brett, auf dem er neuen Stellplatz für die Nasenring-Tina und die Tscherkessin geschaffen hatte und das übervoll mit schweren papiergefüllten Kartons und daher wacklig war. Es kippte und riß im Fallen zwei weitere Bretter mit sich.
Die Stapel mit den eben noch sorgfältig geordneten Liebesbeweisen lagen in einem wüsten Durcheinander auf dem Fußboden. Ein für Symbole empfänglicherer Mensch hätte diesem Bild der Zerstörung vielleicht die Botschaft entnehmen können, daß die Vielfrauen-Verwertungsmethode an ihrer dilettantisch organisierten Überfülle krankte, Viktor aber fluchte und lachte nur und wunderte sich, daß Ellen vom dem Poltern nicht aufgewacht war.
Am anderen Tag ging er in die Bibliothek, weil er keine Lust hatte, das Chaos im Gästezimmer aufzuräumen. Er hatte die Wahl zwischen der Zentralbibliothek, die in einem einigermaßen angenehmen Gebäude im Zentrum untergebracht war, in der aber viele knorrige Schweizer herumsaßen und einem die Laune verdarben, oder der Hauptbibliothek der Universität, häßlich und etwas außerhalb, aber dafür voller beschwingender, schweizerisch zwitschernder Studentinnen – zumindest gab sie Anlaß zu solchen Hoffnungen. Viktor entschied sich gegen die Erotik, für die unabgelenkte Recherche. Es ging darum, für die Hauptfigur seines nächsten Romans eine Ferienreise auszusuchen. Weil Viktor selbst keine Urlaubsgefühle kannte, machten auch seine Figuren selten in Urlaub. Das mußte anders werden.
Im Lesesaal der Bibliothek suchte er einen günstigen Arbeitsplatz, und wie immer, wenn er irgendwo nach einem Sitz Ausschau hielt, tat er das mit jener angenehmen Anspannung, als würde er ein Los ziehen, das sein Leben entscheidend verändern könnte. Um die Spannung zu erhöhen, wählte er einen freien Stuhl an einem Tisch neben einem Stoß mit Büchern von August Strindberg. Der Strindberg-Forscher war abwesend, Viktor stellte ihn sich vor wie einen Bergführer aus dem Engadin oder dem Berner Oberland. Dann deckte er sich mit Bildbänden und Reisebeschreibungen ein und versank im Hochland von Java, in den verrotteten Parks der Herrenhäuser des ehemaligen Ostpreußen, in den staubigen Dörfern Afrikas.
Nach einer Weile erst bemerkte er, daß nebenan kein Bergführer den höllischen Geheimnissen von Strindberg auf die Spur kommen wollte, sondern eine junge Frau, deren dunkle Haare ihr Profil völlig verdeckten. Augenblicklich verlor Viktor das Interesse für die Teeplantagen in Zentral-Java, für exostpreu ßische Feudalparks und senagalesische Lehmhütten. Eine Reise an den unbekannten Arsch der Welt war nichts verglichen mit der Entdeckung eines neuen Menschen. Das nebenan waren Schultern und Arme und Hände und Haare, wie er sie liebte – und Viktor wünschte sich jetzt nur noch eines: daß diese Frau so leer und langweilig, so dumm und liebesunfähig aussehen möge, daß er sie sofort vergessen und sich wieder seinen Länderstudien zuwenden könnte. Die Ausschnitte, die er vom Kinn und vom Mund zu sehen bekam, schienen seine Wünsche zu bestätigen: Fast ein Hexenkinn war das, was durch den Vorhang der Haare schimmerte, ein erfolgloser Versuch, energisch zu sein. Der Mund schien klein und dünn, fast eingefallen, selbst wenn die Nachbarin die Lippen nur konzentriert zusammenpressen sollte – ein sinnliches Maul würde das nie werden – auch in einem entspannteren Augenblick nicht.
Plötzlich, mit einer Schleuderbewegung fast, als wisse sie schon längst, daß sie beobachtet wurde, wandte die Strindberg-Frau ihm ihr Gesicht zu. Sofort war Viktor verloren. Noch nie hatte er so einen entzückenden kleinen Mund gesehen, noch nie so ein süßes spitzes Kinn. Mit achtzig würde sie vielleicht wie eine Hexe aussehen, aber wie eine ganz nette aus einem sympathischen Märchen. Jetzt war sie kaum älter als Mitte Zwanzig und ihre tatsächlich märchenhaft altmodischen Gesichtszüge ließen alles vergessen, was die modischen Gesichter der üblichen schönen jungen Frauen von heute zu bieten hatten. Ein Fräulein, äußerlich aus dem neunzehnten, wenn nicht gar späten achtzehnten Jahrhundert, die Augen aber funkelten hellwach, kein Zweifel, sie war ein Kind der Gegenwart, nur inniger, konzentrierter, lebendiger als das Gros ihrer gleichaltrigen Geschlechtsgenossinnen. Viktor spürte an seinen Gesichtsmuskeln, wie sich die Miene des kritischen Beobachters
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