Der Liebessalat
dann aber würde Viktor für immer verschwinden. Und zwar mit Penelope. In die Berge. Sollte Ellen je ernst machen mit dem Kündigen, werde er sich das Leben nehmen, drohte er vorsichtshalber, denn ein Zusammenleben, fand und sagte er, war nur auszuhalten, wenn man sich die meiste Zeit nicht sah. Nur so konnte man seine Schwächen einigermaßen voreinander verbergen und immer wieder vergessen, nur so freute man sich, wenn man sich sah. Viktor brauchte die Freiheit des täglichen Ungestörtsein. Eine erstickende Vorstellung, nicht allein in der Wohnung zu sein und sich zum ungenierten Telefonieren ständig ins Arbeitszimmer zurückziehen zu müssen. Er telefonierte lieber im Wohnzimmer. Auch hatte er seine Jazz-Tage, an denen er sich mit Hilfe von frühen Duke-Ellington-Stücken aus den späten zwanziger Jahren beschwingen oder mit dem pompösen Lärmen des späten Charles Mingus aus den sechziger und siebziger Jahren durchwalken ließ und sich dabei um etwa ein Dutzend Jahre in einen dreißigjährigen krachsüchtigen Freak zurückverwandelte. Er brauchte das. Er war es auch der Musik schuldig. Wer hörte das sonst noch!
Viktor wäre es auch nicht sehr angenehm, von Ellen in flagranti bei der klassischen Untat ertappt zu werden: Mit Susanne vor ein paar Tagen zum Beispiel. Ellen hätte bloßüberraschend aus Kopenhagen zurückkommen müssen, schon wäre er überführt gewesen. Das würde heutzutage keine Tragödie mehr sein. Es wäre mehr ein Regiefehler. Eine Geschmacklosigkeit. Ein bodenloser Leichtsinn, peinlich, aber längst nicht mehr sträflich. Mit einem kleinem spöttischen Gestotter, mit einer improvisierten Parodie auf den ertappten Ehebrecher alten Stils sollte ein derartiger Lapsus auszubügeln sein. Susanne wäre kein Problem. Ellen würde, wie Viktor sie einschätzte, »muß das sein!« sagen, die Wohnung nicht empört, aber doch verärgert verlassen, nach zwei Stunden wiederkommen und nicht mehr darüber reden wollen. Heikler wäre es, mit Ira ertappt zu werden. Viktor mit der Ehevorgängerin in einer verfänglichen Situation anzutreffen – das hätte Ellen möglicherweise haut goÛt gefunden, aber erstens fanden Treffen mit Ira in Amsterdam statt, zweitens fanden sie selten statt, drittens führten auch nicht alle seltenen Treffen zu einem sexuellen Ergebnis, viertens: Was sprach eigentlich gegen haut goÛt? Und fünftens stand es zwar nirgends geschrieben, aber wenn der abendländische Mensch schon seine Feinde lieben sollte, dann doch wohl erst recht seine geschiedenen Ehepartner. Also alles kein Untergang. Alles auszubügeln. Wenn er mit der Rebecca, der falschen Tscherkessin, bei der rabiatesten Stellung der orientalischen Liebeskunst ertappt werden würde, konnte man einer möglichen Vorhaltung mit dem Hinweis abwehren: »Werd jetzt bitte nicht antisemitisch!« Alles halb so schlimm.
Wirklich entsetzlich und unzumutbar wäre es, bei einer der popmusikalischen Verjüngungskuren auch nur beobachtet zu werden, die Viktor an manchen friedlichen Vor- und Nachmittagen allein in der Wohnung mit ausgesuchten Rock-Titeln seiner Jugend durchführte. Er ließ Jimi Hendrix und die Doors dröhnen, die Stones und die Beatles, Janis Joplin, Aretha Franklin, die junge Tina Turner und den als Tanzmusik völlig unterschätzen Rock ‘n’ Roll von Bob Dylan. Er wurde zum Teenager bei dieser Musik und sprang wie ein Bock nach den Rhythmen herum. Vor keiner Frau der Welt hätte man sich so gehenlassen können. Selbst wenn sie die Lautstärke ertragen hätte, hätte sie einen für pubertär und nostalgisch halten müssen. Man war aber nicht pubertär und nostalgisch. Man war im Handumdrehen sechzehn oder achtzehn geworden, und man war glücklich und liebte das Leben und wollte nicht verspottet werden. Man haßte das Bürgertum und vergaß in diesen wunderbaren Momenten, daß man ihm selbst angehörte. Man ließ alle Verpflichtungen fahren und rief Adrian an und holte Erkundigungen ein, was es mit dem göttlichen
Blues For Some Bones
auf sich habe, den Charles Mingus 1972 in Chateauvallon aufgespielt hatte und in dem die männliche Sexualangeberei dermaßen entzückend persifliert wird, daß man am liebsten sofort die Welt umarmt hätte, aber dazu mußte man den Lautstärkeregler bis zur Schmerzgrenze aufdrehen, um das Entzücken jedes einzelnen im Publikum mitzukriegen und in sich aufzunehmen. Auch der angebliche triste Titel
Oh Lord Don’t Let Them Drop That Atomic Bomb On Me
, den Mingus am 1961 in den New
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