Der Liebesschwur
Vane lächelte sein verwegenes Lächeln – dieses Lächeln, dass jedes Misstrauen verschwinden ließ. »Ich bin nur ein wenig herumgelaufen. Ich überlasse Sie jetzt wieder Ihrer Arbeit.«
Mit diesen Worten ging er zurück zur Tür. An der Tür angekommen, sah er sich noch einmal um. Edgar war wieder in sein Buch vertieft, und Edith Swithins konnte er gar nicht mehr sehen. Frieden herrschte in der Bibliothek. Vane runzelte die Stirn, als er den Raum verließ.
Ohne einen logischen Grund, so musste er zugeben, hatte er doch das instinktive Gefühl, dass es sich bei dem Dieb um eine Frau handelte. Der geräumige Handarbeitsbeutel von Edith Swithins, den sie überall mit hinnahm, übte eine beinahe übermächtige Faszination auf ihn aus. Aber ihr diesen Beutel lange genug wegzunehmen, um ihn zu durchsuchen, war, so nahm er an, für ihn völlig unmöglich. Außerdem, wenn sie in der Bibliothek gewesen war, noch ehe Whitticombe das Frühstückszimmer verlassen hatte, so schien es sehr unwahrscheinlich, dass es ihr gelungen war, Minnies Zimmer in der kurzen Zeit zu durchsuchen, in der sich dort niemand aufgehalten hatte.
Unwahrscheinlich – doch nicht unmöglich.
Als er zur Seitentür ging, dachte Vane über eine weitere, wesentlich kompliziertere Möglichkeit nach. Minnies Dieb – derjenige, der die Perlen gestohlen hatte – musste nicht unbedingt dieselbe Person sein, die auch die anderen Diebstähle auf dem Gewissen hatte. Jemand hatte vielleicht die Gelegenheit genutzt und die diebische »Elster« als Sündenbock für ein ernsteres Verbrechen vorgeschoben.
Vane verzog das Gesicht, als er an der Seitentür ankam – und hoffte, dass dieser Gedanke, auch wenn er ihm nicht unmöglich erschien, wenigstens für die meisten Bewohner von Bellamy Hall unmöglich war. Minnies Hausbewohner waren schon verwirrend genug.
Er hatte die Absicht, einen Spaziergang durch die Ruinen zu machen, um festzustellen, ob er Edmond, Gerrard, Henry und den General finden konnte – wenn er Masters glauben konnte, so waren sie noch immer draußen. Doch Stimmen, die aus dem hinteren Wohnzimmer kamen, ließen ihn innehalten.
»Ich kann nicht verstehen, warum wir nicht noch einmal nach Northampton fahren können«, hörte er Angela jammern. »Hier gibt es doch nichts zu tun.«
»Meine Liebe, du solltest wirklich ein wenig Dankbarkeit zeigen.« Mrs. Chadwick klang erschöpft. »Minnie war mehr als freundlich, uns bei sich aufzunehmen.«
»Oh, natürlich, ich bin dankbar .« Der Ton in Angelas Stimme ließ es beinahe so klingen, als sei das eine Krankheit. »Aber es ist so langweilig , hier gefangen zu sein und nichts anderes zu tun zu haben, als sich alte Steine anzusehen.«
Vane blieb im Flur stehen, er konnte sich Angelas schmollend verzogenen Mund gut vorstellen.
»Weißt du«, fuhr sie fort, »ich habe geglaubt, als Mr. Cynster kam, würde alles anders werden. Immerhin hast du behauptet, er sei ein Schwerenöter.«
» Angela! « Du bist erst sechzehn. Mr. Cynster ist ganz sicher nicht der richtige Umgang für dich!«
»Nun ja, das weiß ich ja – er ist schon so alt! Und er ist auch zu ernst. Ich habe geglaubt, Edmond könnte mein Freund sein, aber in letzter Zeit murmelt er nur noch Verse vor sich in. Meistens ergeben sie nicht einmal einen Sinn! Und was Gerrard betrifft …«
Getröstet von der Tatsache, dass er keine von Angelas kindlichen Annäherungsversuchen mehr würde abwehren müssen, ging Vane ein paar Schritte zurück und nahm dann eine andere Treppe nach oben.
Nach allem, was er herausgefunden hatte, hielt Mrs. Chadwick Angela in ihrer Nähe, zweifellos eine sehr weise Entscheidung. Da Angela nicht länger am Frühstückstisch erschien, vermutete er, dass das bedeutete, dass sie und Mrs. Chadwick den ganzen Morgen miteinander verbrachten. Keine von beiden war seiner Meinung nach eine gute Kandidatin für die Rolle des Diebes, weder des Diebes von Minnies Perlen noch der anderen Dinge.
Also blieb nur noch ein weibliches Mitglied des Haushaltes.
Während Vane durch die endlosen Flure des Hauses ging, überlegte er, dass er keine Ahnung hatte, wie Alice Colby ihre Tage verbrachte.
An dem Abend, an dem er hier angekommen war, hatte ihm Alice erzählt, dass ihr Zimmer in der Etage unter Agatha Chadwicks Zimmer lag. Vane begann an einem Ende des Flügels zu suchen. Er klopfte an jede Tür, und wenn er keine Antwort bekam, öffnete er die Tür und sah in das Zimmer. Die meisten der Zimmer waren leer, Tücher lagen über
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