Der Liebesschwur
Spekulationen und auch nicht mit ungerechtfertigten Verleumdungen. Und am wenigsten« – wieder sah sie zu Henry – »mit überaus voreiligen Vermutungen.«
Sie hielt inne, dann lächelte sie und sah zu Vane auf. Vollkommen ungerührt zog er eine Augenbraue hoch und sah sie an. »Nach oben?«
Patience nickte. »In der Tat.«
Ohne weiteres Aufhebens und ohne weitere Behinderungen trug Vane sie aus dem Zimmer.
8
»Warum«, fragte Vane, als er mit ihr auf dem Arm die Treppe hinaufging, »sind alle davon überzeugt, dass es Gerrard ist?«
»Weil«, entgegnete Patience bissig, »sie sich nichts anderes vorstellen können. Es ist der Streich eines Jungen , also muss es Gerrard sein.« Als Vane oben an der Treppe angekommen war, sprach sie weiter. »Henry besitzt keinerlei Fantasie, der General auch nicht. Sie sind Dummköpfe. Edmond besitzt genügend Fantasie, aber er setzt sie nicht ein. Er ist so verantwortungslos, dass er alles als einen großen Spaß ansieht. Edgar ist zu vorsichtig, um Schlüsse zu ziehen, aber seine Schüchternheit ist so groß, dass er sich ständig zurückzieht. Und was Whitticombe betrifft« – sie hielt inne, ihre Brust hob sich, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen – , »er ist ein selbstgerechter Spielverderber, der sich eine Freude daraus macht, die Aufmerksamkeit auf die angeblichen Vergehen anderer zu lenken, und das alles mit einer elend hochmütigen Art.«
Vane warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Das Frühstück heute Morgen ist Ihnen offensichtlich nicht bekommen.«
Patience stieß ein unwilliges Geräusch aus. Sie blickte nach vorn und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Umgebung. Doch hier kannte sie sich nicht aus. »Wohin bringen Sie mich?«
»Mrs. Henderson hat eines der alten Wohnzimmer für Sie hergerichtet – damit Sie nicht von den anderen gestört werden, es sei denn, Sie wünschen es.«
»Das werde ich erst tun, nachdem die Hölle eingefroren ist.« Nach einem Augenblick sah Patience zu Vane auf. In einem anderen Ton fragte sie: »Sie glauben doch nicht auch, dass es Gerrard ist, nicht wahr?«
Vane schaute auf sie hinunter. »Ich weiß , dass es Gerrard nicht ist.«
Patience' Augen weiteten sich. »Sie haben gesehen, wer es war?«
»Ja und nein. Ich habe nur einen kurzen Blick auf ihn werfen können, als er durch einen weniger dichten Teil des Nebels gegangen ist. Er kletterte über einen Stein und hielt dabei die Laterne hoch, und ich habe nur seine Umrisse erkennen können. Seiner Gestalt nach war er ein ausgewachsener Mann. Aber bei einer gewissen Entfernung ist es schwierig, die genaue Größe festzustellen, allerdings kann man den Körperbau besser erkennen. Er trug einen schweren Mantel, doch hatte ich den Eindruck, dass er nicht aus einem billigen Stoff war.«
»Aber Sie sind sicher, dass es nicht Gerrard war?«
Vane blickte auf Patience hinunter, die es sich in seinen Armen bequem gemacht hatte. »Gerrard ist viel zu schlank, um ihn mit einem voll ausgewachsenen Mann verwechseln zu können. Ich bin ganz sicher, dass er es nicht war.«
»Hm.« Patience runzelte die Stirn. »Was ist mit Edmond – er ist recht dünn. Schließen Sie auch ihn aus?«
»Das glaube ich nicht. Seine Schultern sind breit genug, um solch einen Mantel zu tragen, und bei seiner Größe könnte er, wenn er gebückt geht, entweder wegen der Kälte oder weil er die Rolle des Gespenstes spielt, der Mann sein, den ich gesehen habe.«
»Nun, wer auch immer«, meinte Patience, und ihre Laune besserte sich. »Sie können jetzt diesem skurrilen Gerede, dass Gerrard das Gespenst ist, endlich ein Ende machen.« Ihre Fröhlichkeit dauerte nur kurze Zeit, dann runzelte sie wieder die Stirn. »Warum haben Sie nicht gerade eben schon im Frühstückszimmer Gerrard verteidigt?«
»Weil«, meinte Vane und ignorierte ihre plötzlich eisig gewordene Stimme, »es ganz offensichtlich ist, dass jemand – jemand an diesem Frühstückstisch – ganz zufrieden damit ist, wenn alle vermuten, dass Gerrard das Gespenst ist. Jemand wünscht sich, dass man Gerrard als den Sündenbock ansieht, damit die Aufmerksamkeit von ihm selbst abgelenkt wird. Wenn man die geistigen Fähigkeiten bedenkt, die Sie gerade beschrieben haben, so lassen sich die Herren im Großen und Ganzen leicht überzeugen. Wenn man die Angelegenheit nur richtig präsentiert, werden sie es gern glauben. Doch leider, weil keiner von ihnen wirklich unintelligent ist, ist es schwierig zu sagen, wer all die anderen auf die
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