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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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enttäuschend aussahen und Pauls Spott hervorgerufen hatten. Doch durch das hohe Gras zu waten fühlte sich an,
     als streife man durch ein seidiges, graugrünes Fluten, das einen dicht umschloß und doch fast körperlos war. Hier, im unteren
     Teil des Grundstücks, hatte sie bei ihrem ersten oder zweiten Aufenthalt eine Ricke mit ihrem Kitz beobachtet. Das hatte sich
     abernicht mehr wiederholt. Wild war überhaupt selten zu sehen. Dazu mußte man sich wohl abends auf einen der vielen Hochsitze
     setzen.
    Sie drehte sich um. Das Grundstück war riesig – ein Familienerbe vom Anfang des Jahrhunderts, als Ruths Großeltern, oder waren
     es sogar die Urgroßeltern, Inhaber einer bedeutenden Fabrik gewesen waren. Wollte man das Grundstück heute verkaufen, müßte
     man es parzellieren. Aus Pietät oder Eigensinn dachte Ruth nicht daran. Aber ich muß daran denken, sagte sie sich, während
     sie den Wiesenhang langsam hochstieg. Wenn ich mich von Paul trenne, muß ich mein Haus verkaufen. Schon für uns zwei war es
     zu groß. Und allein kann ich nichts damit anfangen.
    Sie brach die Gedanken immer wieder ab, wenn sie ein Stück weitergekommen war. Noch immer hatte sie Hemmungen, alle anstehenden
     Veränderungen zu durchdenken, und konnte sich nur allmählich und etappenweise an das Neue gewöhnen.
    Als sie ihre Koffer ausgepackt hatte, rief sie Leonhard an, der sich inzwischen durchgerungen hatte, morgen zu kommen.
    »Wann soll ich da sein?« fragte er.
    »Zwischen zehn und elf«, sagte sie. »Es sind nur anderthalb Stunden Fahrt.«
    »Rechne mal mit elf«, sagte er.
    »Gut, dann machen wir Brunch, und du bleibst bis zum Abendessen. Hast du etwas zu schreiben? Dann erkläre ich dir den Weg.«
    Sie hatte noch nicht lange aufgelegt, als ihre Freundin anrief, offenbar in Eile. Sie wollte nur wissen, ob alles in Ordnung
     sei, und wünschte weiterhin schönes Wetter und einegute Zeit. Wenn noch jemand anrief, konnte es nur Paul sein. Aber er rief nicht an. Sie verbot sich, darüber nachzudenken,
     was er jetzt tat. Nun gut, er war entweder zu Anja gegangen oder zum Kollegenstammtisch. Angesichts der Schroffheit, mit der
     sie ihn zurückgewiesen hatte, mußte sie zugeben, er hatte recht. Sie mußte nur endlich dahin gelangen, daß ihr das alles gleichgültig
     war.
     
    Wie gewohnt deckte sie den Abendbrottisch auf der Terrasse. Es kam ihr ein wenig übertrieben vor, daß sie es so sorgfältig
     für sich allein machte, doch sie sagte sich, daß man in diesen alltäglichen Gewohnheiten nicht nachlässig werden dürfe, wenn
     man allein lebte. Und sie war ja nun dabei, es zu lernen.
    Es war ein ruhiger Sommerabend. Die Hitze hatte nachgelassen, und das Licht war weicher und ungefährer geworden und ließ die
     Konturen der Landschaft in der dunstigen Ferne verschwimmen. Am immer noch hellblauen Himmel stand zwischen den abendlich
     angeleuchteten Wolken unauffällig und blaß der früh aufgegangene Mond. Er war nicht mehr als ein bescheidener milchiger Fleck,
     den sie eher zufällig zwischen den Abendwolken entdeckte. Wie ein zu früh gekommener Gast hielt er sich zurück und kündigte
     doch, wenn man ihn erst bemerkt hatte, das nahende Ende des laufenden Schauspiels an. Unsichtbar für sie ging hinter dem vom
     Buchenwald umhüllten Berggipfel die Sonne unter, und langsam, dann immer schneller, erlosch der Goldglanz des schräg einfallenden
     Lichtes, der in der letzten halben Stunde die Farben des Laubes mit seinem warmen Leuchten übergossen hatte. Der Wiesenhang
     und die nähere Umgebung des Hauses, die schon einige Zeit imSchatten lagen, wurden grau, die Baumkronen verschmolzen miteinander, und Bäume und Sträucher schienen aus der am Boden nistenden
     Dämmerung immer mehr Schwärze zu saugen. Irgendwann waren die Vogelstimmen verstummt. Es fiel ihr erst auf, als eine verspätete
     Amsel dicht am Boden über den Hang flog und im Gebüsch verschwand.
    War es dieses Verstummen und Verschwinden, das ihr deutlich machte, daß sie allein auf der Terrasse saß und das Dunkelwerden
     als einen zunehmenden Sog erlebte? Wenn sie mit Paul abends hier gesessen hatte, war sie der Umgebung weniger ausgeliefert
     gewesen. Das Gespräch hatte seine eigene Zeit gehabt und seine eigenen Bedeutungen geschaffen, und die Dämmerung war ein Schattenspiel
     am Rande geblieben. Jetzt dagegen fühlte sie sich von ihr eingesponnen und eingesogen und mußte sich einen Ruck geben, um
     aufzustehen, den Tisch abzuräumen und ins Haus zu

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